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Einführung: Lebenlauf / Literarische Erzeugnisse

Erste Sammlung: Brief I. / Brief II. / Brief III / Brief IV / Brief V / Brief VI / Brief VII / Brief VIII

Zweite Sammlung: Brief IX / Brief X / Brief XI / Brief XII / Brief XIII

Dritte Sammlung: Brief XIV / Brief XV / Brief XVI/Biographie

Ambrosius Bethmann Bernhardi (1756- 18o1)

Die literarischen Erzeugnisse von A.B. Bernhardi

Züge zu einem Gemälde des Russischen Reichs unter Catharina II.
gesammelt bey einem vieljährigen Aufenthalte in demselben. In vertrauten Briefen 1798.

1. Sammlung 1798, 304 Seiten, Brief I - VIII

Brief VI.

Kurze Darstellung der Vorteile, welche die neue Stadthalterschaftsregierung gewährt. Mängel derselben. Besetzung der Gerichte und der Regierung, mit Militärpersonen. Zu große Gewalt der Generalgouverneure. Ungleichheit der Strafen.


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Es ist gewöhnlich, die ganze von der Kaiserin 1783 eingeführte Ordnung der Dinge zur Gerechtigkeitspflege, zur Erhebung der Einkünfte, zur Verwaltung der Polizei, kurz zu allem, was nur die gegenseitigen Rechte und Pflichten in der bürgerlichen Gesellschaft erfordern, im weiten Sinne Statthalterschaftsregierung zu nennen. Es lässt sich auch numero nicht gut von dieser Benennung abgehen, ohne Verwirrung anzurichten. Im Grunde sagt sie aber nicht, was sie sagen soll; denn sie gibt den Unterschied zwischen der alten und neuen Verfassung gar nicht an. Ja, wollte man die Einwendungen so weit treiben, als sie sich mit Recht treiben lassen, so würde man eher der alten, als der neuen Ordnung den Namen der Statthalterschaftsregierung beilegen können. Wenn ein Statthalter so viel als eine Person bedeutet, welche die


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Stelle des Regenten in den Provinzen vertritt, so waren die ehemaligen Gouverneure nicht nur mit eben dem Rechte wie die jetzigen Generalgouverneure, sondern mit einem noch größeren so zu nennen, da sie wirklich weit mehr Gewalt in sich konzentrierten. Wenn übrigens von der Statthalterschafts- oder auch Gouvernementsregierung in einer Provinz die Rede ist, so versteht man darunter den Statthalter und den Gouverneur mit zwei ihm zugegebenen Räten, oder auch nur die drei letzten Personen, wenn in einer Provinz kein Generalgouverneur vorhanden ist. Ich werde sie bisweilen auch die Regierung schlechthin nennen, wie sie ebenfalls heißt. Nach diesen Anmerkungen über die Benennungen komme ich auf die Sache selbst. Sie werden keine genaue Darstellung der Staatsverfassung erwarten. Dazu reicht ein Brief nicht hin. Ich schränke mich auf einige Bemerkungen ein, welche teils das Gute, teils das Mangelhafte der jetzigen Verfassung des russischen Reichs, wie ich glaube, ins Licht stellen werde.

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Ich stimme mehreren Schriftstellern vollkommen bei, wenn sie die Statthalterschaftsregierung im ganzen erheben. Sie war in mancher Rücksicht eine große Wohltat für Russland. Zuvor vereinigte der Gouverneur zu viel Funktionen in seiner Person. Unter ihm stand unmittelbar das Militär, die Polizei, die Gerechtigkeitspflege und das Finanzwesen einer ganzen großen Provinz. Die Vereinigung so vieler und so heterogener Zweige der Staatsverwaltung war eine natürliche Veranlassung zur Unordnung und zur Ungerechtigkeit. Um nun die Bedrückung zu steuern, und den Geschäften einen ordentlichen Gang zu geben, verteilte Katharina II. die Gewalt eines Einzigen unter Mehrere, den Generalgouverneur, Gouverneur und Vizegouverneur, subordinierte die beiden letzten dem ersten nur in gewisser Rücksicht, und setzte in dem Gouvernementprocureur noch überdies gewissermaßen einen Aufseher, der die Handlungen der Regierung kontrollieren und die bemerkten Fehler dem Senat anzeigen soll. Zugleich wurden die Gerichtshöfe

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unabhängiger von dem Statthalter gemacht, als sie es zuvor waren. Der Bürgerstand so wie der Adel, wählt die Glieder mehrerer Gerichtshöfe selbst aus seinem Mittel; und wird der oberste, eigentlich so genannte Gerichtshof mit Gliedern besetzt, welche die Regierung dem Senat vorschlägt; so hängt er dagegen auch unmittelbar von diesem ab, und nimmt nur von ihm Befehle an. Überdies hat die Ritterschaft sowohl als die Bürgerschaft noch dadurch bei der neuen Einrichtung einen großen Vorteil erhalten, dass die eine wie die andere ihr gesamtes Beste bis zu einem gewissen Punkt selbst besorgt, und nun einen eigentlichen Stand im Staate ausmacht. Wenn endlich die Gerichte ehedem so sparsam waren, dass man oft sogar in bevölkerten Provinzen nur alle zehn Meilen weit eins fand; so ist nun diesem Mangel abgeholfen und der Grund zu einer überall möglichen Gerechtigkeit gelegt. Ob übrigens die Klassen und Stufen der Gerichte nicht zu sehr vervielfältigt sind, lasse ich dahin gestellt, und führe nur als eine

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wohltätige Anstalt das Gewissensgericht an, welches unter andern Pflichten auch hauptsächlich die hat, darauf zu sehen, dass Verhaftete binnen drei Tagen verhört, mit Menschlichkeit überhaupt, und besonders auf bloßen Verdacht nicht so behandelt werden, als währen sie des angeschuldigten Verbrechens überwiesen.*) Bei diesen Einrichtungen haben die niederen Stände am meisten gewonnen. Der Adel im ganzen hatte ehedem im eigentlichen Russland nicht nur über die leibeignen Bauern, sondern selbst über die Bürger, eine fast unumschränkte Gewalt. Nur wenige Städte hatten einen Magistrat aus der Bürgerschaft, und selbst da waren die Wahlen sehr eingeschränkt. Jetzt haben hierin alle Städte gleiche Freiheit; und diese erstreckt sich viel weiter, als in den meisten Städten Deutschlands. Da ergänzt sich gewöhnlich der Magistrat selbst. Dies ist nicht so nach der russischen Stadtordnung. Alle Bürger, die nach derselben gewählt werden können, wählen auch. Eine solche Einrichtung bewahrt vor vielen Missgriffen; und diejenigen, die etwa noch eintreten, sind dadurch unschädlicher gemacht, dass alle drei Jahre die Wahlen von neuem angestellt werden. Dann kann derjenige, der sich weder durch Kenntnisse noch durch Tätigkeit und Rechtschaffenheit seiner erhaltenen Stelle würdigt zeigte, derselben verlustig werden. Wie viel Aufforderung ist nicht dieser mögliche Verlust für denjenigen, der nur einigen guten Stoff in sich hat! Dies alles sind große Vorteile für den Bürgerstand. Auch die Bauernschaft hat im ganzen bei der neuen Einrichtung sehr gewonnen. In den für sie bestimmten Gerichten sind Personen aus ihrer Mitte Beisitzer.

*) Ich führe nur diesen Punkt an, weil die beiden anderen Hauptgeschäfte des Gewissensgerichts, nämlich Streitende nach Billigkeit zu vergleichen und sich der Personen anzunehmen, die den Gebrauch des Verstandes nicht haben, in jedem einigermaßen geordneten Staate stattfinden, wenn auch gleich kein besonderes Gericht dazu bestimmt ist; und ich daher in dieser Rücksicht das Gewissensgericht nicht als eine ganz vorzügliche Anstalt erheben kann.

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Und wie viele tausend leibeigene Bauern sind nicht Bürger geworden? Die Gerichte sollen nur in Städten sitzen, und überall, wo diese mangelten, wurden Dörfer dazu erhoben und die Einwohner derselben für frei erklärt. Der Magistrat in solchen neuen Städten ist freilich oft sonderbar geschaffen, und selbst in alten kann der Bürgermeister bisweilen nicht schreiben. Auch will ich ihnen nicht verhehlen, dass mir das Äußere mancher Magistratspersonen mitten in Russland auffiel. Ein langer Bart und schlicht gekämmtes Haar schienen ihrer Würde nicht zu entsprechen. Nach dem ersten Eindruck aber schämte ich mich vor mir selbst über eine solche Beurteilung; und was den Mangel an Kenntnissen betrifft, so muss man nicht bei der Gegenwart stehen bleiben. Bei den verbesserten und vermehrten Schulanstalten in Russland, wovon ich künftig etwas sagen werde, ist die Möglichkeit der Kultur da, und in der Verfassung nebst der Vermehrung der Städte, liegt zugleich die Hoffnung, dass sie zur Wirklichkeit werde.

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Der Bürger ist überall kultivierter als der Bauer, und in Russland ist dem letzten noch besonders die Leibeigenschaft nachteilig. Von dieser befreit und zu Ämtern bestimmt, wird der gemeine Russe sich nach zu der liberalen Denkungsart erheben, die mehr oder weniger, früh oder spät die Folge der Kultur ist. Ich wenigstens habe diesen Glauben und kann nur mit Unwillen sehen, das ein Narischkin über die Erschaffung des Bürgerstandes trauert. So viel Gutes aber in der neuen Verfassung Russland liegt, so finden sich doch im In- und Ausland häufige Klagen über Mangel an Gerechtigkeit. Sind denn diese nur eine Folge der unvermeidlichen Unvollkommenheit aller Dinge? nur die Wirkung der Bösartigkeit der Menschen, der auch die beste Verfassung nicht hinlänglich Einhalt tun kann? Daß diese Fragen bejahend zu beantworten seien, wie mancher Schriftsteller behauptet, kann ich mich nicht überreden. Ich finde den Grund jener Klagen zum Teil in der Verfassung selbst.

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Man ist seit langer Zeit gewöhnt, die preußische Monarchie einen militärischen Staat zu nennen. Dies scheint mir ganz unrecht. Preußen mit allen seinen Ländern hat sorgfältig gesonderte Gewalten, und doch sollte nur der Staat militärisch heißen, welcher ganz von Soldaten regiert wird, wie Tunis und Algier. Nach dieser Bestimmung des Wortes gibt es in Europa eigentlich gar keinen militärischen Staat. Indessen kommt eine solche Benennung noch am meisten Russland zu. Denn da haben Militärpersonen einen entscheidenden Einfluss auf die Verwaltung der bürgerlichen Regierung. Der Senat, welcher die letzte ordentliche Instanz unter den Gerichten, und das Organ der gesetzgebenden Gewalt ist, besteht, wenigstens zum Teil, aus Generälen, und hat zum Vizehaupt (denn das eigentliche Haupt ist der Regent) unter dem Namen eines Generalprocureur, oft, wie gerade jetzt, einen General, der unter den Waffen grau geworden ist; die Generalgouverneure und Gouverneure, die bei allen Einschränkungen nach der neuen Verfassung

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doch großen Einfluss auf die Verwaltung der Gerechtigkeit haben, sind der Regel nach, auch wirkliche Generale; und endlich sollen selbst nach der Verordnung zu dem Adel eigenen Gerichten nur solche Edelleute gewählt werden, die in der Armee gedient haben. Der verstorbene Sturz sagt daher, dass die Russen den Römern glichen, welche zu allen Ämtern gebildet, vom Zivil zum Militärdienst, und von diesem zu jenem übergingen. Auch ist wohl Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Völkern ihrer Verfassung nach. Der Unterschied ist aber doch zugleich sehr groß. Der Konsul, der Prätor kommandierte oft eine Armee, wenn er sich auch nie vorzüglich um das Kriegswesen bekümmert hatte; nicht so der Generalprocureur in Russland, wenn er nicht als wirklicher General zuvor gedient hat. Weiter herunter geht dies gar nicht. Es ist wohl ein leichter Übergang von dem Soldatenkommando zur Präsidentschaft, aber nicht von dieser zu jenem.*)

*) Im Auslande glaubt man sehr oft, dass dies stattfinde, und dass z.B. ein Kammerjunker, weil er Brigadiers Rang hat, auch als solcher bei der Armee angestellt werde. Allein wenn dies ja geschehen ist, so muss es als Ausnahme von der Regel betrachtet werden.

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Auch ist dies wohl sehr heilsam. Nur wenige große Köpfe können wie Richelieu den Staat regieren, und zugleich, ohne vorhergehende Übung, auch Belagerungen kommandieren. Die jetzige Lage der Kriegskunst macht einen solchen Übergang von einem Geschäft zum andern weit schwieriger, als er bei den Römern war. Überdies wurde bei diesen jeder Bürger doch einigermaßen in den Waffen geübt; in Russland hingegen findet eine allgemeine Übung nur dem Scheine nach unter dem Adel statt. Wenn es aber aus diesen Gründen sehr gut ist, dass ein Richter nicht deswegen ein Kommando in der Armee erhält, weil er den dazu erforderlichen Rang hat, ist es denn umgekehrt gut, dass Militärpersonen in den Gerichten angestellt werden, bloß weil sie gedient haben? Wenig Personen in andern Ländern,

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werden diese Frage bejahend beantworten, oder gar wie Sturz, um einer solchen Anstellung willen, dem russischen Reich einen Vorzug vor andern einräumen. Nun übereilt man sich zwar bei der Beurteilung jener Einrichtung nicht selten, indem man für Russland eben viel Gelehrsamkeit, als für Deutschland notwendig hält. Man denkt an die Menge der sich durchkreuzenden und zum Teil in alten Sprachen geschriebenen Gesetze, an römisches, deutsches, sächsisches, canonisches und Lehnsrecht, an die mannigfaltigen Auslegungen mancher Gesetze, an die Schikanen der auslegenden Advokaten u.s.w. Davon muss man bei der Gerechtigkeitspflege in eigentlichenRussland abstrahieren. So vielerlei Rechte gibt es da nicht; die Gesetze sind alle in der Landessprache verfasst; gedruckte Auslegungen sind, so viel ich weiß, gar nicht vorhanden, und die Advokaten haben für die übrigen einen geringen Spielraum. Auch gibt es wenig Advokaten; jedermann führt entweder seine Sache selbst, oder gebraucht dazu, wen er will, oft seinen Leibeignen.

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Überdies muss man nicht vergessen, das in einem Lande, wo die Rechtsgelehrsamkeit keinen besondern Stand bestimmt, sich jedermann um die Gesetze sorgfältiger bekümmert, als wo man sich zu jeder Zeit bei besondern Personen Rat erholen kann, und keinen Anspruch auf ein Richteramt hat, wenn man sich nicht der Rechtsgelehrsamkeit insbesondere widmet.
Man kann diese ausgebreitete Kenntnis der Landesgesetze als eine glückliche Folge der Verfassung ansehen. Endlich ist doch wohl nicht zu leugnen, dass selbst in Deutschland oft erst durch Routine gerade das gelernt wird, was bei einem Richteramt das notwendigste ist, und auf die Aktuarien und Sekretäre, die auch in Russland nicht aus dem Militärstande genommen werden, viel ankommt. Wenn man aber auch dies alles in Betrachtung zieht, ehe man über die gerichtliche Verfassung in Russland abspricht; so bleiben doch noch Gründe genug übrig, die ein ungünstiges Urteil rechtfertigen können. Die durch bloße Erfahrung erlangte Kenntnis

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der Gesetze muss in unzähligen Fällen aus Mangel an Prinzipien unzureichend sein; und gesetzt sie wäre es nicht, so ist der militärische Geist, der immer mehr oder weniger Willkür in den Anordnungen zulässt, und auf strenge Subordination hält, der Pflege der Gerechtigkeit gar nicht günstig. Ich habe oft darüber klagen hören, dass die gewesenen Offiziere als Präsidenten von ihren Besitzern eine uneingeschränkte Zustimmung fordern, und gar nicht begreifen können, wie untergeordnete Personen ihre Auslegung oder Anwendung der Gesetze für unstatthaft zu erklären wagen. Diese Klagen rührten gewöhnlich von Personen her, die nicht in der Armee gedient hatten. Von andern lässt sich allerdings erwarten, dass sie, an Subordination gewohnt, sich leicht in den Willen des Präsidenten fügen. Eine solche Richtung des Charakters zum Despotismus auf der einen und zur unbedingten Unterwürfigkeit auf der andern Seite, ist bei Richtern doch gewiss ein großes Übel. Schon bei niedern Gerichten ist sie von Bedeutung; denn es

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gibt doch wohl Fälle genug, wo von ihren Ansprüchen nicht appelliert werden kann. Am gefährlichsten ist aber freilich der Soldatengeist in den obern Gerichten. Jene werden in wichtigen Angelegenheiten von diesen kontrolliert und wohl gar zur Strafe gezogen; wer steuert aber der Willkür der letzten? Der Weg zum Regenten ist an sich schwer, und wird es noch mehr dadurch, dass die Glieder des höchsten Gerichts die angesehensten Personen des Staates sind. Gleichwohl ist dies noch nicht einmal alles, was sich gegen die russische Gerichtsverfassung sagen lässt. Der Senat ist nicht nur höchstes Gericht, sondern auch Organ der Gesetzgebung, und hat deswegen das Recht, um des Besten des Staats willen, die Gesetze zu erweitern und einzuschränken. Eine solche Verbindung von zwei Gewalten, die getrennt sein sollten, in militärischen Händen, die mehr an Exekution als an den bedächtigen Gang der Rechtspflege gewohnt sind, lässt manche Übel befürchten.

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Doch es kommt darauf an, ob die häufigen Klagen über das Verfahren der obern Gerichte überhaupt, und selbst des Senates, Grund haben. Sie sind sehr starker Art; und ich habe sie nicht nur in Riga, sondern auch in Petersburg und Moskau führen hören. Auf Gunst und Geld, meint man, käme alles an, wenn etwas durchgesetzt werden solle, und man erzählt Anekdoten, welche allerdings diese Behauptung beweisen, in so fern sie selbst wahr sind. Ich baue freilich auf einseitige Sagen nicht viel; aber es ist doch ein schlimmes Zeichen, wenn ein Gerichtshof das Vertrauen verloren hat, und als bestechbar angesehen wird. Über das Kammergericht in Berlin und die höheren Gerichtshöfe in Sachsen herrscht kein solcher allgemeiner Verdacht; obgleich die Parteien in Brandenburg und Sachsen eben so geneigt als an andern Orten sind, zu glauben, dass ihnen Unrecht widerfahre, wenn sie abgewiesen werden. Überdies hat der Senat während meines Aufenthalts im russischen Reich Entscheidungen gegeben, die allerdings sehr auffallend sind, und deren Wahrheit ich nicht bezweifeln kann. Eine davon will ich ihnen mitteilen.

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Ein Mann in Riga, Namens Stritzky, hatte durch eheliche Verbindung das wahre oder vorgebliche Geheimnis, einen gewissen Balsam zu machen, den man von seinem Erfinder, den Kunzischen nennt, nebst den vermeintlich ausschließenden Recht dazu geerbt. Der Balsam ist in der Tat bei Wunden sehr gut, und wird auch auswärts, besonders nach England geführt. Stritzky entzweite sich mit einem seiner Gehilfen; und dieser bot seine Kunst einem russischen Kaufmann Namens Leluchin an, der als ein spekulierender Kopf das Anerbieten begierig annahm, darüber mit dem Inhaber des Privilegiums in einen Prozess geriet, und denselben gewann, weil Fabriken frei sein müssten. Ob dieser Grundsatz im vorliegenden Falle gegen ein unzweifelhaftes Privilegium angewandt wurde, weiß ich nicht; aber so viel ist gewiss, dass solche alte Gewerberechte überhaupt nicht sehr geschont werden. Die Buchdruckerei in Riga hatte unstreitig ein ausschließendes Privilegium,

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musste aber ebenfalls eine andere neben sich leiden. Monopole sind das Verderben des Staates, ist der Grundsatz der Regierung, und sie hat unter gewisser Einschränkung unstreitig Recht --- ob es aber auch recht sei, dieses Grundsatzes wegen, die schon gegebenen Privilegien ohne alle Rücksicht aufzuheben ist freilich eine andere Frage. Doch man entscheide sie wie man wolle, so sah man in der Folge sehr deutlich, dass in der Stritzkischen Sache noch andere Treibfedern, als das Wohl des Staates gewirkt haben mussten. Nach einigen Jahren wurde eben das ausschließende Privilegium, das dem Stritzky um der Wohlfahrt des Staates willen, nicht zugestanden worden war, dem Leluchin gegeben. Dazu musste man freilich wieder einen Scheingrund haben. Er war hier sehr leicht, aber auch sehr sonderbar. Der Balsam wurde nicht nur für äußere Wunden, sondern auch zur inneren Stärkung gebraucht, und vertrat die Stelle des Franzbranntwein und des Arraks. Wer das nicht wußte, hätte glauben müssen,

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ganz Russland läge an Wunden krank, wenn er die Reihe von Wagen sah, welche mit Balsam beladen aus Riga zogen, so ungeheuer war der Gebrauch dieses universellen Heilmittels. Er konnte der Krone nicht gleichgültig sein. Sie sah sich in ihrem Rechte, allein Branntwein zu verkaufen, gekränkt. Der Senat verordnete daher, dass künftig kein Balsam verkauft werde, der nicht mit dem Krone Siegel bezeichnet sei, und verwilligte dieses Siegel nur dem Kaufmann Leluchin. Stritzky wurde auch noch insbesondere bedeutet, keinen Balsam mehr zu machen. Dieser Befehl war schon an sich ungerecht, wurde aber noch ungerechter dadurch, dass die angebliche Ursache desselben gerade nur denjenigen traf, welcher privilegiert wurde. Stritzky hatte von jeher nur eingeschränkte Geschäfte getrieben, wie sich allerdings von einem Heilmittel verstand, und sein Vertrieb in Russland besonders war von keiner großen Bedeutung gewesen. Auch machte er seinen Balsam in solcher Stärke, dass nur wenig ausgepichte Magen ihn vertragen konnten.

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Leluchin hingegen verminderte diese Stärke wohl um die Hälfte, und hatte wahrscheinlich bei seiner ganzen Unternehmung weniger auf den äußern, als auf den innern Gebrauch des Balsams gerechnet. Wenigstens ist so viel gewiss, das erst durch ihn der letzte herrschend wurde. Auch suchte Stritzky nach jenem Befehl weiter nichts wieder zu erlangen, als die Erlaubnis für fremde Länder Balsam zu bereiten. Allein selbst diese wurde ihm abgeschlagen, während Leluchin sein Gewerbe ungehindert, eher stärker als schwächer, zum wirklichen Nachteile der Krone trieb. Das eine solche Begünstigung geheime Triebfedern haben müsste, sprang in die Augen; und man fand sie in den Vorteilen, welche Leluchin zwei Männern zufließen ließ, von deren Bericht sein Glück abhing. Wie man sagt, nahm er den einen den zum Balsam nötigen Branntwein um einen hohen Preis ab, und gab den andern jährlich einige hundert Dukaten für die Erlaubnis, auf seinen Gütern die nötigen Kräuter zu lesen, weil sie nur da wuchsen.

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Dass auf diesen Bestechungsmitteln das erwähnte Privilegium wirklich beruhte, wurde nach einigen Jahren höchst wahrscheinlich. Jene beiden Männer starben, und nun hatte es auch ein Ende. Alles was Leluchin erhielt, war dass er den noch vorrätigen Balsam innerhalb Liefland oder an die Krone verkaufen durfte. Schon zuvor hatten sich manche Russen gefunden, welche den großen Gewinn zu teilen suchten, und deswegen Proben von ihrer Kunst eingereicht. Dabei war es auffallend, dass man sie nicht so geradezu, wie den Stritzky, sondern nur nach vorhergehender Untersuchung des zur Probe gelieferten Balsam, und unter dem Vorgeben abwies, er sei nicht gut; ja sich nicht scheute, in öffentlichen Blättern die befundene Untauglichkeit bekannt zu machen, da man doch über Stritzky's Balsam stets ein tiefes Stillschweigen beobachtet hatte. --- Bisher habe ich hauptsächlich von eigentlich richterlichen Entscheidungen gesprochen. Nun gehe zu einer andern Quelle der Ungerechtigkeit über, welche bei der neuen Verfassung offen gelassen worden ist.

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Sie liegt in der immer noch sehr großen Gewalt des Generalgouverneurs und des Gouverneurs. Eigentlich sind sie freilich nur die Häupter der exekutiven Gewalt. Aber erstlich ist ihnen der Einfluss auf die Gerichte doch nicht gänzlich genommen, und zweitens ist die Hilfe gegen dieselben, die in jedem Lande der Hoheit des Standes wegen schwierig sein würde, selbst durch die gesetzliche Einrichtung in Russland erschwert. Über diese Punkte muss ich Ihnen noch etwas sagen.
Nach den Gesetzen darf sich weder Generalgouverneur noch Gouverneur, in die Aussprüche irgend eines Gerichts mischen; allein sie bestimmen doch im Grunde, ob die Appellation von dem obersten Provinzialgericht an den Senat angenommen oder verworfen werden soll, da sie es in ihrer Gewalt haben, die Vollstreckung jedes Urteils zu suspendieren. Daher hilft dem Gerichtshof das Recht, seine Urteile, auch bei einer dazwischen kommenden Appellation an den Senat, vollstrecken zu lassen, wenig oder nichts.

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Alle Gerichtssachen müssen am Ende durch die Regierung, d.h. durch die Hände eines Generals gehen. Denn die Regierungsräte, die seine Urteile leiten sollen, haben keine entscheidende Stimme, und sind überdies auch meistenteils gewesene Offiziere. Nun ist zwar die Appellation an den Senat dadurch erschwert, das mit derselben nicht nur eine eidliche Versicherung von der Gerechtigkeit der Sache getan, sondern auch eine Kaution von 200 Rubeln niedergelegt werden soll, die bei der vollen Bestätigung des vorhergehenden Urteils verloren geht. Dies hilft aber wenig oder nichts. Da für die Kaution eine bloße Versicherung der Armut an Eides statt angenommen werden soll, so sind Leute arm, die mehrere tausend Dukaten von liegenden Gründen einzunehmen haben. Die Versicherung der Armut in einem solchen Falle wurde vor kurzem wirklich von einer Statthalterschaftsregierung angenommen. Auch weiß man nicht einmal, ob man ihr deswegen Vorwürfe machen soll, da es in den Gesetzen ausdrücklich heißt,

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dass über den Grund einer solcher Versicherung keine Untersuchung anzustellen sei. Es wird daher mit den Appellationen ein großer Missbrauch getrieben. Sie finden selbst dann statt, wo der klare Buchstabe des Gesetzes dieselben verwirft. Als z.B. ein Kaufmann gegen einen ausgestellten Wechsel keine andere Einwendung machte, als das er auf einer Reise bestohlen worden sei, wurde die Appellation gegen die Vollstreckung eines Urteils, dem gültigen Wechsel recht zuwider, doch angenommen. Obgleich ferner der Generalgouverneur sowohl als der Gouverneur, verklagt werden kann; so ist doch ihrer Gewalt kein hinlängliches Gewicht entgegen gesetzt. Ihre Befehle müssen vollstreckt werden, wenn sie einstimmig sind; und sind sie es nicht, so kann doch wenigstens der Generalgouverneur mit der Exekution angefangen, und gewöhnlich ruhig die Klage abwarten, die hinterher erfolgt. Endlich ist es für ganze Gemeinheiten schlimm, dass sie gegen eine Senatsukase keine Vorstellungen anders, als vermittelst der Regierung, machen dürfen.

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Wie sehr daher anvertraute Gewalt von den Generalgouverneuren missbraucht werden könne, habe ich in Riga gesehen. Einige Beispiele davon will ich hier anführen, zu andern wird sich in meinen folgenden Briefen Gelegenheit darbieten.
Es war noch vor der neuen Einrichtung mehrmals geschehen, das mitten im Frieden Häuser der Vorstadt, die zu nahe an den Festungswerken standen, hatten niedergerissen, und an andere Orte versetzt werden müssen. Dies geht nach der dasigen Bauart der hölzernen Häuser wohl an, und steinerne sind in der Vorstadt nicht erlaubt; aber große Kosten verursacht der Transport eines Hauses immer. Überdies verliert es oft die Hälfte seines Wert's, wenn es aus der Nähe der Stadt in einen abgelegenen Winkel versetzt wird. Gleichwohl werden die Eigentümer gar nicht verhältnismäßig entschädigt. Dieses Verfahren fällt nicht wenig auf, wenn man weiß, dass selbst der Großherr in Konstantinopel keine Hütte, ohne Einwilligung des Eigentümers,

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niederreißen lässt, sollte er auch den Platz derselben zu einer gelobten Moskee brauche; und die Verwunderung steigt, wenn ganz neu aufgebaute Häuser wieder weggerissen werden müssen. Warum lässt man denn bauen? Ist es die Schuld des Eigentümers oder der Stadtverwalter, das die Unschicklichkeit eines Bauplatzes erst nach einem Jahr in die Augen springt? --- Indessen war hierbei der Gouverneur wohl nur Mittelsperson. Das Ingenieurkorps entschied eigentlich, und jenem lag nur ob, eine hinlängliche Entschädigung zu bewirken. Suchte er sie nicht auszumachen, so weiß man nicht, ob man die Schuld seiner Schwachheit oder seiner Hartherzigkeit zuschreiben soll. Was ich hier eigentlich anführen wollte, ist von etwas anderer Art, und neuerlich geschehen. Seit zwölf bis fünfzehn Jahren waren keine Häuser dem Willen der Regierung aufgeopfert worden. Auch hätte ein solches Opfer schwerlich mehr die Nähe bei den Festungswerken zum Grunde haben können,

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ausgenommen bei einigen wenigen, welche, nach der Sage, bei der allgemeinen Reinigung des freien Platzes zum Spiel der Kanonen, nur aus bezahlter Vergünstigung stehen geblieben waren. Im Jahre 1793 wurden gleichwohl wieder viele Häuser, wo nicht völlig niedergerissen, doch ihrer Dachung beraubt und unbrauchbar gemacht. Der Grund davon war, die Schönheit der Stadt, oder auch die Sicherheit bei Feuer --- ob ich gleich den letzten Grund nicht habe anführen hören.
Es hatten nämlich eine große Menge Hütten nur Dächer von Brettern oder Schindeln; und die Kaiserin soll bei ihrer Durchreise durch Riga im Jahre 1765 zu verstehen gegeben haben, dass eine solche Dachung die sonst schöne Vorstadt verunziere. Das der Generalgouverneur nach einer solchen Äußerung kein neues Haus mehr mit Holz decken ließ, war in mehr als einer Rücksicht gut. Was soll man aber sagen, wenn er nach mehr als 25 Jahren jene Äußerung anführte, um den Einwohnern zu befehlen, alle schon vorhandene Häuser, ja Schuppen und Schweineställe mit Ziegeln zu decken?

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Wäre dies der Wille der Kaiserin gewesen, so hätte er wohl zuerst für Petersburg und Moskau erklärt werden müssen.
Die Schönheit der Hauptstädte war doch wichtiger, als die einer Provinzstadt, welche ihrer Anlage nach, nie schön werden kann. Bedenkt man ferner, das noch jetzt selbst neue Häuser in Plesko mit Brettern gedeckt werden, und das, wenn in den russischenStädten alle solche Häuser für untauglich erklärt werden sollten, wenigstens drei Viertel davon das Verdammungsurteil erführen; so lässt sich gar nicht einmal denken, dass die Kaiserin es gerade über Riga habe ergehen lassen wollen. Jene Äußerung derselben war kein Befehl, sondern ein frommer Wunsch, den sie wahrscheinlich schon längst vergessen hatte. Diese Vermutung ist auch, wie man sagt, durch sie selbst bestätigt worden. Der Generalgouverneur ließ nicht nur in Riga, sondern auch in Reval und in andern Städten seiner Statthalterschaft befehlen, die hölzernen Dächer abzureißen. Der Gouverneur in Reval

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fühlte die Ungerechtigkeit eines solchen Befehls, erstattete vor der Ausführung desselben Bericht darüber an die Kaiserin, und erhielt von ihr was er wünschte. In Riga fiel die Möglichkeit zu einer solchen Berichterstattung weg. Die Frist zur Ausführung des Befehls war zu kurz, und der Generalgouverneur gegenwärtig. Nur Vorstellungen an denselben machte der Gouverneur, aber umsonst. Ja, diese Vorstellungen selbst hatten eine sehr nachteilige Wirkung. Sie brachten den Statthalter auf den Gedanken, dass ohne seine Gegenwart der Befehl nur halb ausgeführt werden würde; und da er bald eine Reise auf seine Güter machen wollte, so fuhr er vorher noch selbst mit der Polizei in den Vorstädten umher, und ließ vor seinen Augen jedes hölzerne Dach abreißen. Die Eile vermehrte um vieles die Härte des Befehls. Die raue Jahreszeit war noch nicht zu Ende, und hunderte von Armen blieben im eigentlichen Verstande ohne Dach; denn diese hauptsächlich traf die Ungerechtigkeit. Es wäre unmöglich gewesen, in der kurzen Frist,

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welche verstattet war, so viel neue Dächer zu bauen, als abgerissen werden sollten. Dieser Bau war aber auch überhaupt sehr vielen unmöglich. Man weiß ja, das nicht jedes Haus die Last eines Ziegeldaches trägt; und wäre diese zu tragen gewesen, so war es doch oft die Last der Kosten nicht. Für 150 bis 200 Thaler ist in Riga nur ein kleines Ziegeldach zu machen. Kurz, die meisten Häuser, deren Dächer niedergerissen wurden, waren so gut als selbst niedergerissen. Sie stehen größtenteils noch jetzt wüste, oder mit losen Brettern bedeckt; denn freilich suchte der Arme sich gegen Schnee und Regen zu schützen, legte zum Teil die Bretter wieder auf die Sparren so gut er konnte, und belastete sie mit Steinen.
Eben dieser Generalgouverneur, welcher das Eigentum kränkte, schonte auch des Leibes nicht. Er ließ einen Brauherrn, der ihm seine Gerste nicht bezahlen konnte, und bankrot machte, ohne Urteil und Recht ins Zuchthaus stecken, mehrere Schiffer, für ein eingebildetes Vergehen, ohne Untersuchung züchtigen,

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und einen so peitsche, dass man einige Tage an seinem Aufkommen zweifelte. Es waren Schiffer, welch Boote halten, um im Frühjahr und Herbst, wo keine Brücke auf der Düna steht, die Kommunikation zwischen beiden Ufern derselben zu unterhalten, und deswegen Übersetzer heißen. Sie machen eine Art von Innung aus, und haben die Obliegenheit, die Floßbrücke im Frühjahr einrichten, und im Herbst abführen zu helfen. Nun hatten sich diese Leute seit einigen Jahren den Unwillen des Generalgouverneurs zugezogen. Ich übergehe verschiedene Ursachen, die man davon anführt, weil sie nicht verbürgt werden können; und bleiben bei derjenigen stehen, die er selbst anführte, nämlich, dass die Übersetzer das Aufschlagen der Brücke immer zu lange hinaussetzen, und das Abnehmen derselben so früh als möglich bewerkstelligten, um desto länger ihre Boote notwendig zu machen. Ob diese Vermutung gegründet war oder nicht, kann eigentlich kein Mensch entscheiden. Betrachtet man die Eigennützigkeit der menschlichen Natur,

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so ist allerdings die Präsumtion gegen die Übersetzer; bedenkt man aber, dass der Stadtrat und Männer von vieljähriger Erfahrung sie leiteten, und wider ihren eigenen Vorteil sowohl, als wider den der Stadt gehandelt haben würden, wenn sie das Aufschlagen und Abnehmen der Brücke zu spät oder zu früh veranstaltet hätten; so muss man annehmen, das der böse Wille der Übersetzer wenigstens ohne Erfolg geblieben sein würde. Überdies lehrte die Erfahrung mehr als einmal bei meinem Aufenthalte in Riga, dass, wenn in der angeführten Rücksicht der Befehl des Generalgouverneurs dem Rat der Stadtbeamten zuwider war, der Erfolg den letzten als verständig bewies. Als einst die Düna nur mit wenig Eis belegt gewesen und sehr früh offen war, sollte der Brückenbau eher als gewöhnlich unternommen werden. Man stellte vor, das Treibeis aus Polen müsste erst abgewartet werden, aber umsonst. Auch schien es, als ob die Vorstellung unnötig gewesen sei. Der Bau rückte ohne Störung fort; der Generalgouverneur triumphierte --- doch zu früh.

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Das Treibeis, welches man befürchtet hatte, kam, zog die eingerammten Brückenpfähle raus, oder zerschnitt sie, und riss die Brücke mit sich fort. Nur mit großer Mühe zog man dieselbe, ehe sie in die See schwamm, ans Ufer. So lag sie nun länger, ungenutzt als sie ohne jene Eile gelegen haben würde, und die Stadt hatte überdies einen Aufwand von wenigstens tausend Thalern gehabt. Auch die Verspätung in der Abnahme der Brücke zog der Stadt häufige, unnötige Kosten zu. Denn da unmittelbar vor dem Eintritt des Winters das Wasser sehr hoch ist, so kann sie zu dieser Zeit bei aller Anstrengung nicht gleich, wie gewöhnlich, in eine Art von Hafen, der oberhalb der Brücke liegt, sondern nur ans Ufer, und erst dann in denselben gebracht werden, wenn der Fluss tragbares Eis hat; welches große Kosten verursacht. Diese Floßbrücke, die nur aus drei Hauptstücken besteht, lässt sich gar nicht behandeln wie eine gewöhnliche Schiffbrücke. Gegen einzelne Schiffe mit Schnäbeln äußert ein Strom nicht

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den zwanzigstenTeil von der Gewalt, welche er über ein Floss hat, das ihm auf alle Fälle eine breite Seite zukehrt, und fünf bis sechs hundert Fuss Länge hat. Macht dies das Aufziehen der Brücke in den Hafen schwierig, so ist die Schwierigkeit bei dem Aufschlagen derselben nicht minder groß. Jedes Stück stellt dann seineganze Länge dem Fluss entgegen, und kann nur mit viel Mühe an dem zur Brücke bestimmten Ort festgehalten werde, während das man die Brückenpfähle einrammt. Bricht auch die menschliche Kunst die Gewalt des Stroms, so lässt sich doch gar nicht bestimmen, in welcher Zeit sie ihre Absicht erreichen wird. Gleichwohl schob der Generalgouverneur, wenn Wind und Wasser nicht günstig waren, die Schuld der daher entstehenden Verzögerung immer auf den bösen Willen der Arbeiter; und in den letzten Jahre seiner Regierung setzte er bestimmt die Zeit fest, wenn die Brücke fertig sein sollte. Alle Vorstellungen der Unmöglichkeiten waren umsonst. Man tat das Äußerste von Seiten der Polizei um

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die Arbeiter in der angestrengtesten Tätigkeit zu erhalten. Allein die Brücke wurde am bestimmten Tage doch nicht fertig; und nun ließ der Generalgouverneur die angeführte Strafe an den Übersetzern nehmen. Wozu hilft, kann man hierbei fragen, die Einrichtung des Gewissensgerichts, welche mit der Hebeas - corpus - Akte in England verglichen wird, wenn ein Generalgouverneur mit der Exekution in einem Falle anfangen läßt, wo kein Gericht auf Erden ein gerechtes Verdammungsurteil fällen kann, wo er alle Männer von Erfahrung und das Publikum wider sich hat? Dieses verdammte in der Tat sein Verfahren in allen Punkten so laut, das man den Unwillen darüber selbst vor seinen Kindern nicht zurück hielt. Ich führe dies mit Fleiss an, damit sie nicht etwa glauben, als ob man in Riga Sklavensinn habe und sklavische Behandlung verdiene. Von jenem ist die Rigaische Bürgerschaft so weit entfernt, das man sie sogar bisweilen des Demokratismus beschuldigt. Auch bin ich überzeugt, dass dieser Generalgouverneur Ordnung

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und Gerechtigkeit im Ganzen eifrig wollte, und oft um der Gerechtigkeit selbst willen Ungerechtigkeiten beging. Leider! ging seine Festigkeit, die im Felde vortreffliche Dienste getan hatte, in Härte und Eigenmächtigkeit über. Gegen diese, die einer von schwarzen Flecken in der menschlichen Natur ist, muss jede gute Verfassung die stärksten Maßregeln ergreifen. Auch ist in der neuen Staatseinrichtung Rücksicht darauf genommen, aber, wie aus dem Erfolg erhellt, bei weiten noch nicht hinlänglich. So lange die Statthalter nicht von jeder Ungerechtigkeit auf eine leichte Weise zurück gehalten werden können, so verlieren alle übrigen Maßregeln zur Sicherheit und Freiheit jedes Staatsbürgers einen großen Teil ihrer Kraft. Die Statthalter sollen die Väter der Provinz sein. Die Gewalt, welche Vätern über unmündige Kinder zukommt, haben sie, ob aber auch immer ihr Herz, dies gehört wohl nicht zu den unauflösbaren Problemen. Es ist überhaupt schon eine missliche Sache um die politische Vaterschaft, noch viel misslicher wird sie,

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wenn es eine Stiefvaterschaft ist, wie diejenige genannt werden kann, die einem Statthalter übertragen wird. So geneigt ich übrigens bin, dem genannten Generalgouverneur manches Gute und weit mehr zuzuschreiben, als in Liefland gewöhnlich geschieht, so gestehe ich doch, das ich die Lebensbeschreibung desselben von seinem Schwiegersohn dem Grafen B... unbegreiflich finde. Wie konnte dieser Mann in seinen Helden ein Muster für alle Zeitalter aufstellen wollen, da selbst der Leichenredner, der Kaplan des Verstorbenen, es für nötig hielt, die Fehler desselben mit dem Mantel der Liebe zu zudecken, und die Schuld davon auf die Personen zu schieben, die ihn umgeben haben? Wie konnte er sagen, das sein Schwiegervater von allen, die ihn kannten, geliebt und geschätzt worden sei, da der Unwille über seine Regierung so offenbar und allgemein war. Zuletzt muss ich noch etwas über die Kriminaljustiz in Russland sagen. Sie wissen, dass, Verbrechen des Hochverrats etwa ausgenommen,

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niemand mit dem Tod gestraft wird. Selbst Mörder werden nur geknutet, gebrandmarkt und mit aufgeschlitzten Nasen und Lippe auf Lebenszeit zum Festungsbau verurteilt. Fälschlich glaubt man im Ausland, dass unter dem Knuten die meisten Verbrecher ihr Leben verlieren. Ich zweifle zwar nicht, das der Knutenmeister, der seine Kunst versteht, mit wenigen Hieben dem Leben ein Ende machen kann, wie man so ziemlich allgemein auch in Russland versichert. Gewöhnlich aber ist der Tod gar nicht die Folge jener Leibesstrafe. In Riga ist zu meiner Zeit kein geknuteter unmittelbar darauf gestorben --- und ich sah in Dünamünde Verbrecher, die unmittelbar nach der Exekution den Weg von Petersburg dahin angetreten hatten, und völlig hergestellt waren. Ob übrigens die Verwandlung der Todesstrafe in Leibeszüchtigung und Baugefangenschaft dem Staat Vorteil oder Nachteil bringe, kann ich für Russland nicht beurteilen; und ob sie Recht sei, gehört gar nicht hierher.*)

*) Bei der durch Kants Rechtslehre neuerlich wieder erregten Frage über die rechtliche Notwendigkeit der Todesstrafe, ist es mir sehr sonderbar vorgekommen, dass man dagegen eingewandt hat, der Verbrecher könnte andere Strafen dem Staate nützlich gemacht werden, da doch Kant eben die Rücksicht auf ein solche Nützlichkeit für verwerflich erklärt.

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Aber die Bemerkung gehört wohl hierher, das man einen Unterschied der Strafe nach dem Stande statt finden lässt. Wird ein solcher Unterschied mehr oder weniger in den meisten Ländern gemacht, so ist er doch in keinem durch ein Gesetz so bestimmt, wie in Russland. Nur der kleine Bürger steht unter dem Stock und unter der Knute. Bei dieser Verfassung kommt es oft, das der Hauptverbrecher weniger als derjenige bestraft wird, welcher einen entfernten Anteil an einem Vergehen genommen hat. So wurde vor kurzem der eigentliche Fabrikant von falschen Banknoten ohne alle Leibesstrafe nach Sibirien geschickt, und mancher, der sich bloß hatte gebrauchen lassen, die Banknoten zu vertreiben, geknutet, gebrandmarkt und zum lebenslänglichen Festungsbau verurteilt.

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Die Geschichte dieser Fabrik ist überhaupt merkwürdig. Ich will sie ihnen also noch zum Schluss dieses Briefs mitteilen, so wie sie mir erzählt worden ist. Baron G... Besitzer eines mäßigen Ritterguts in Liefland, faste den Entschluss sich auf Kosten des Staates zu bereichern, und selbst die Regierung in Riga zur Untersuchung seiner Unternehmung zu gebrauchen. In dieser Rücksicht gab er vor, er wolle eine Fabrik anlegen, die eben so guten Stahl liefern werde, als der Englische sei; um aber wegen der großen Kosten nicht gefährdet zu sein, hätte er die Regierung, seine Arbeiter auf ein unverbrüchliches Stillschweigen zu verpflichten. Er erhielt was er verlangte, legte auch wirklich eine Stahlfabrik an, nebenbei aber zugleich eine von Banknoten. Beide gingen eine ziemliche Zeit ohne alle Störung ihren Gang, bis einige Arbeiter manche geheime Operationen verdächtig fanden, und bei der Regierung anzeigten. Diese fand nun zwar bei der geheimen Untersuchung,

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die sie darüber anstellen ließ, nichts, was einen gegründeten Verdacht erwecken konnte, mochte aber doch unter der Hand die Wechsler instruiert haben, auf die Beschaffenheit der bei ihnen einkommenden Banknoten Achtung zu geben. Als daher einmal der D. A... aus Mietau gegen tausend Rubel in Dukaten umsetzte, fand sich bei Vergleichung, das eine Nummer darunter war, welche der Wechsler schon in seiner Kasse hatte. Auf seine Anzeige reiste der Gouverneur sogleich nach Mietau, ließ den Doktor arretieren und brachte ihn durch das Versprechen der Befreiung aller Strafe dahin, den ganzen Gang der Sache anzugeben. Es wurden dabei Leute verwickelt, denen man gar keine solche Geldquelle zugetraut hatte; unter andern ein preußischer und ein österreicher verabschiedeter Offizier, die in armseligen Umständen bis zu ihrer Verhaftung lebten. Nach Ausgang der Sache wurden die adligen Verbrecher entweder nach Sibirien, oder wenn sie Ausländer waren, über die Grenze geschafft, die Bürgerlichen aber, mit aller Strenge bestraft.

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