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Einführung: Lebenlauf / Literarische Erzeugnisse

Erste Sammlung: Brief I. / Brief II. / Brief III / Brief IV / Brief V / Brief VI / Brief VII / Brief VIII

Zweite Sammlung: Brief IX / Brief X / Brief XI / Brief XII / Brief XIII

Dritte Sammlung: Brief XIV / Brief XV / Brief XVI/Biographie

Ambrosius Bethmann Bernhardi (1756- 18o1)

Die literarischen Erzeugnisse von A.B. Bernhardi /

Züge zu einem Gemälde des Russischen Reichs unter Catharina II.
gesammelt bey einem vieljährigen Aufenthalte in demselben. In vertrauten Briefen 1799.

2. Sammlung 1799, 294 Seiten, Brief IX - XIII

Brief XIII.

Hindernisse der Kultur in den höheren Ständen: schlechte Erziehung, frühzeitiges Avancement, übermäßige und unverdiente Belohnungen, gesetzmäßiges Verhältnis der befehlenden Klasse zu der dienenden. Stolz eines eroberten Volkes. Hindernisse der allgemeinen Kultur; Eingeschränktheit des Mittelstandes, strenge und verzögerte Zensur, geheiligter Aberglaube. Denkungsart der russischen Geistlichkeit. Toleranz und Intoleranz der herrschenden Religion. Hindernisse des Einflusses der Religion auf das Leben der Letten. Liberaler Geist des Protestantismus in Liefland. Beispiel seltner Toleranz und Gewissenhaftigkeit in dem Haupte desselben. S. 248-282.

Anhang : Über Herrn Merkel erneuerten Anklage des alten Magistrats in Riga, und eben desselben Darstellung des Einflusses der russischen Stadtordnung auf die Sitten von Riga.

--247-- XIII.
Ich habe in meinem letzten Brief den Charakter der Russen gegen manche Beschuldigung zu verteidigen gesucht, zugleich aber hoffentlich zur Genüge gezeigt, das ich weit entfernt bin, ihr unbeschränkter Lobredner zu werden. Sie haben noch viel Fortschritte oder auch Rückschritte zu machen, ehe sie sich mit den am meisten kultivierten Völkern in gleiche Klasse setzen können. Wenn Raynal auf sehr scharfe Weise sagt, sie wären von der Rohheit zu verdorbenen Sitten übergegangen, ohne den Mittelstand der wahren Kultur berührt zu haben; so ist freilich diese Behauptung, in Beziehung auf die ganze Nation, unrichtig und ungerecht zugleich. Viele dem russischen Scepter unterworfene Völker sind noch jetzt als ganz roh anzusehen und den eigentlichen Russen auf dem Lande wird man wohl auch nicht eine überfeine Kultur vorwerfen können.

*) Auf die Charakterisierung dieser Völker lasse ich mich nicht ein, weil ich nicht unter ihnen gelebt habe. Nur in Rücksicht auf die Baschkiren will ich anmerken, das ich unter den vielen, die ich bei Gelegenheit des letzten Krieges in Riga sah, nicht einen einzigen gefunden habe, der als Original zu den Abbildungen hätte sitzen können, die man gewöhnlich von ihnen macht. Sind auch dabei die Grundzüge richtig, so sind sie doch so verstärkt, das sie nur zu Karikaturen passen.

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In Rücksicht aber auf einen großen Teil der höheren Stände, möchte ich es nicht wagen, mich zu Raynals Gegner aufzuwerfen, so sehr ich auf der anderen Seite überzeugt bin, das es unter denselben Männern gegeben hat, und noch gibt, die jedem Lande Ehre machen würden. Ein solcher war der im Jahre 85 als Gouverneur von Riga verstorbene und im Ausland wenig bekannte General Naumoff. Ich habe ihn zwar nicht selbst, aber seine Lebensumstände und Lebensweise sehr genau kennen lernen, und unter allen Menschen, die mit mir von ihm sprachen, sie mochten ihn nun nach seinen öffentlichen Charakter, oder nach seinem Privatleben beurteilen, nur eine Stimme über seine Rechtschaffenheit und Herzensgüte gefunden.

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Mit diesen Eigenschaften verband er zugleich Kenntnisse und Talente aller Art. In seiner Bibliothek, die er nebst seinem Klavier und seiner Flöte, von jedem Standquartier zum andern schaffen ließ, welches bei seinen häufigen Versetzungen in sehr entfernte Orte wahrlich von nicht geringer Bedeutung ist, fand ich nicht bloß solche Bücher, welche die Gegenstände seines Berufs, die Kriegskunst und den Wasserbau, betreffen (er war mehrere Jahre Direktor der Wasser Kommunikation in Wischneiwolotschock) sondern eben so viele in deutscher und französischer Sprache, die sich auf allgemeine Bildung des Verstandes und Geschmack beziehen. Überdies bewies eine Menge von Rissen und Handzeichnungen, die er hinterlassen hat, seinen unermüdlichen Fleiss.

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Dieser vorzügliche Mann war aber freilich auf eine andere Art erzogen worden, als in der Regel die jungen Russen, deren Eltern Vermögen haben, jetzt erzogen werden. Sein Vater, der dadurch selbst als ein gebildeter Mann erscheint, tat ihn früh in eine gute Erziehungsanstalt zu Reval, ließ ihn als Sergeant bei einem Feldregiment dienen, und gab ihm immer so viel Zuschuss, als er, selbst bei eingeschränkten Bedürfnissen, notwendig brauchte --- Umstände, deren Gegenteil, in meinen Augen, die wahre Kultur unter den höheren Ständen teils überall, teil besonders in Russland nicht wenig hindert. Dies weitläufig hier auszuführen, ist nicht meine Absicht. Ein Teil davon gehört zu allgemeinen Betrachtungen, und ein anderer Teil ist in meinen vorigen Briefen hinlänglich bemerkt. Nur in Rücksicht auf das Avancement will ich noch eine Bemerkung machen. Die Offiziere, welche die Nachricht von einem glücklichen Ereignis nach Petersburg brachten, wurden gewöhnlich avanciert.

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Wären sie nun immer verdiente Männer und besonders solche gewesen, die das glückliche Ereignis, das sie meldeten, mit herbeigeführt hätten, so würde ein solches Avancement unschädlich gewesen sein. Allein es waren bisweilen ganz junge Leute, die nicht einmal den Charakter verdienten, den sie schon zuvor hatten. Nach einer und eben derselben Aktion in Polen wurden zwei junge Leute nach Petersburg geschickt. Der eine wurde dadurch vor seinem zwanzigsten Jahre Obristlieutenant, und der andere in gleichem Alter Major. Beide hatten noch keinen Dienst im Felde getan.
Dies führt mich auf einige allgemeine Bemerkungen über die Belohnungen in Russland. Nach dem Maße und nach der Art wie sie ausgeteilt werden, sehe ich sie als ein großes Hindernis echter Kultur an. Medaillen, Orden, Avancement, Geld, goldene Degen, Diamanten und Bauern, sind immer bereit, den glücklichen Erfolg von einem Scharmützel wie von einer Hauptschlacht zu krönen. Ja, es scheint bisweilen, als ob man ohne außerordentlichen Belohnung keinen ordentlichen Dienst erwarte.

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In Riga bekamen einst alle Ingenieur Offiziere, die in Ruhe und Frieden Schanzen aufwerfen lassen, einen Orden dafür. Die Hauptdirektoren mochten ihn vielleicht verdient haben, in so fern der Plan der Verteidigung vielumfassend war;*) aber wie kamen die Offiziere dazu, welche nur die gewöhnliche Dienstarbeit verrichteten? Auch Zivilpersonen bekommen Belohnungen, wie sie in anderen Länder schwerlich statt finden. Nicht nur der Fürst Subow bekam deswegen, weil er sich in der Teilung von Polen sehr tätig bewiesen habe, überaus große Geschenke, sondern auch sein Sekretär fünf hundert Bauern, welche, in Geld gerechnet, doch wenigstens 50,000 Rubel betragen.

*) Der General, der von der von Petersburg zur Besichtigung dieser Werke geschickt wurde, missbilligte sie ganz, und meinte, zur Besetzung derselben braucht man eine große Armee, und habe er diese, so verkrieche er sich nicht hinter Schanzen.

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Überhaupt half die Teilung von Polen zu Stellen, Titeln oder Geld manchem Manne, der wenig oder nichts dabei getan hatte, ja wohl gar, wenn es auf seinen Willen angekommen wäre, ihr entgegen gearbeitet hätte. Ein Ausländer, der durch Heirat ein ansehnliches Vermögen, und durch einen Großen manche Aufforderung erhalten hatte, sich doch nicht mit dem bloßen Bürgertitel zu begnügen, wußte lange keinen Rat, ihn zu einer Größe von Bedeutung zu erhöhen, da er nicht wirklich dienen wollte, und doch nach der in Russland bestehenden Observanz, ohne Dienst, im Zivilstand keinen Rang erhalten konnte. Die Revolution in Polen half ihm aus dieser Verlegenheit. Er erkaufte um ein Geringes das Patent eines polnischen Hofrates, wurde dann dem Senat als ein Mann vorgestellt, der dem russischen Reiche in Polen großen Nutzen geschafft habe, und als wirklich russischer Hofrat anerkannt. Dieser Mann hatte nicht das geringste getan, ja war nicht einmal in Polen gewesen.

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Auch hörte ich in Petersburg selbst noch den Tag vorher, als er in seiner neuen Qualität den Eid der Treue ablegen sollte, an der Wirklichkeit seiner Standeserhöhung zweifeln. So unbegreiflich war sie für jeden, der den Zusammenhang der Dinge nicht wußte. Sie kostete zwei tausend Rubel. Ich komme auf das vorhergehende Beispiel zurück. So ansehnliche Belohnungen, als ich da angab, und sehr viele Menschen bisher erhalten haben, kann der Staat in der Länge schwerlich ohne Schaden aushalten. Überdies wurde jener Sekretär bald darauf, wie man sagte, um verlangter Bestechungen willen, seines Dienstes entlassen; und dies führte mich auf einen anderen Punkt, der bei den zahlreichen Belohnungen sehr bedenklich ist. Ich habe nämlich oft darüber klagen hören, das sie vielen schlechten und unbrauchbaren Menschen erteilt würden, und muss diese Klage nach meinen eigenen Erfahrungen für gerecht erkennen. Eben der Kaufmann, welcher der Stadt Riga 40,000 Alberts Thaler zum Anbau neuer Hanf Magazine abrang, wurde Ritter, so wie fast zu gleicher Zeit ein Sekretär, der sich der Bestechungen offenbar schuldig gemacht, und schwerlich ein anderen Verdienst, als das eines Zuträger hatte.*)

*) Er hat sich unter der jetzigen Regierung wegen eines beabsichtigten, und zum Teil ausgeführten Meuchelmordes genötigt gesehen, Riga zu verlassen.

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Gut und gerecht ist es freilich an sich, das außerordentliche Belohnungen nicht auf die eigentliche Belohnungen nicht auf die eigentlichen Großen oder den Militärstand eingeschränkt sind, in Rücksicht auf die Folgen ist aber eben dies schlimm, in so fern es so viele unrechte Wege gibt, Belohnungen zu erschleichen. Mit der Sphäre derselben steht dann die Sphäre verdorbener Denkungsart in Verhältnis. Wenn man es übrigens als etwas Vorzügliches rühmt, das in Russland kein Amt, kein Rang dem Adel anschließend zugehöre, so muss man doch dabei nicht mancherlei Einschränkungen vergessen. Die Konkurrenz mit dem Adel ist nicht groß, da der Freien außer demselben so wenig, und die Unfreien von derselben ausgeschlossen sind.

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Überdies sind doch wenigstens die Zivilbeamten von bürgerlicher Geburt, selbst der Verfassung nach, den adligen weit nachgesetzt. Diese können nämlich alle drei Jahre einen höheren Charakter begehren, jene nur alle zwölf Jahre. Dabei müssen Sie aber nicht an eigentliches Fortrücken im Amte denken. Mit dem Range ist es in Russland eine ganz eigene Sache. In andern Ländern soll er doch der Regel nach von denÄmtern abhängen. In Russland hängt er mehr von den Titeln ab. Wer keinen hat, verliert den mit dem Amte verbundenen Rang, sobald er entlassen ist. Auch ist es nichts seltenes, das der Unterbeamte einen höheren Rang hat, als die Oberen. Er darf nur früher mit eigentlichen Titeln angefangen haben. Wer spät anfängt einen zu begehren, erhält sogar bisweilen einen solchen, der dem Amte, das er verwaltet, gar nicht angemessen ist. Einst wurde bei dem Senate um Titel für zwei Männer in Riga gebeten, deren Ämter Major- und Oberstlieutenant Rang gaben, und sie erhielten Titel, die sie den Fähndrich und Lieutenant gleich setzen.

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Für diese Gnade mussten sie sich bedanken, und einen drei Monate Gehalt abgeben. Regel ist indessen, auch bei später Bitte um einen Titel, eine solche tiefe Herabsetzung nicht. Die angeführten Fälle zeigen nur, als Ausnahmen, das was möglich ist, und sollen ihren Grund in der Unzufriedenheit des Senats über das Benehmen des Generalgouverneur Grafen von B.... gehabt haben. Er hatte sich nämlich immer angemaßt, auf einen bestimmten Titel für die Rangkompetenzen seines Gouvernements anzutragen, und, weil in Gnaden bei der Kaiserin stand, gewöhnlich erhalten, was er begehrte. Als er nun vor der Erfüllung seines letzten Ranggesuchs starb, wollte der Senat, wie man sagte, sehr bestimmt zeigen, das die vorgeschlagenen Titel eben nicht erteilt werden müssten. Nach dieser Abschweifung kehre ich zu dem Hauptgegenstand zurück.

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Die vielen Belohnungen, welche in Russland erteilt werden, sind in meinen Augen schon an sich bedenklich, weil ein Teil davon aufhört, Triebfeder zu werden, sobald man verschwenderisch damit umgeht, und ein anderer schwerlich mit den Einkünften des Staates für immer bestehen kann; noch bedenklicher werden sie aber dadurch, das sie teils, wie Geburt und Vermögen, ein Spiel des Zufalls, teils eine Folge der Schlechtheit sind. Höchstens sind sie im ganzen Treibmittel, die nur für einen gewissen Zeitpunkt Kräfte wecken, und sie zugleich abnutzen, anstatt zu stärken, oder gerade in der Richtung fest halten, wohin sie sich von selbst zum Schaden der Sittlichkeit neigen. Diese leidet auch nicht wenig durch das gesetzmäßig gewordene Verhältnis zwischen den Herrn und den Leibeigenen; und man kann wohl fragen ob Peter I. durch die schweren Fesseln, die er indirekt den letzten angelegt hat, nicht der allgemeinen Kultur mehr geschadet, als durch seine guten Einrichtungen genützt habe, wenn man nicht etwa Krieg und Eroberung, um derentwillen jene Fesseln angelegt wurden, als das beste Mittel oder den vorzüglichsten Zweig der Kultur betrachtet.

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Doch die Entscheidung dieser Frage überlasse ich Ihnen selbst, und setzte nur noch hinzu, das der Stolz, der sich so leicht eines erobernden Volkes bemächtigt, es eben so leicht abgeneigt macht, zu erkennen, was ihm noch fehlt. Hierzu rechne ich in Russland Reichtum an Kenntnissen, und Trieb sie immer zu vermehren. Ein solcher Mangel ist nach der jetzigen Lage der Dinge natürlich. Überall findet an den größten Umfang der Kenntnisse, und die Bemühung sie zu verbreiten, ursprünglich im Mittelstand, und dieser ist selbst nach der neuen Einrichtung in Russland immer noch schwach. Auch ist da mit eigentlicher Gelehrsamkeit wenig anzufangen. Die Stellen, wo sie erfordert wird, sind verhältnismäßig in geringer Zahl, und gar nicht so dotiert, das sie sehr reizen könnten. Überdies hat die Verbreitung aufklärender Kenntnisse ein großes Hindernis in der strengen und langsamen Zensur.

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Wenn man sieht oder liest, das in Petersburg selbst solche Schriften eingeführt, und ungescheut gelesen werden, welche die Monarchin unmittelbar angreifen, so sollte man glauben, es existiere gar keine Zensur. Dieser Glaube wäre aber ein großer Irrtum. Zensur ist wahrscheinlich von der Zeit an gewesen, als man in Russland zu schreiben angefangen hat, und zwar für alle Schriften, welche die Religion angehen, sehr strenge Zensur. Auch wird diese sehr ausgedehnt. Sobald in einem Buche nur Gott oder biblische Geschichte vorkommt, so muss es dem Gutachten des Synods unterworfen werden, und dieser hält nicht nur sehr lange auf, sondern lässt gewiss nichts passieren, was nur im geringsten den hergebrachten Begriffen und Auslegungen der Schrift, oder den Gebräuchen der Kirche zuwider ist. Hieraus kann man leicht erklären, warum teils keine neuen Religionsparteien entstehen, teils an die Verbesserung des äußeren Gottesdienstes bis jetzt noch gar nicht gedacht worden ist. Die übrige Zensur war ehedem nicht so scharf.

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Allein teils die, durch die französische Revolution erregte Furcht vor der öffentlichen Meinung, teils das schon angeführte Wagstück des Etat Rates Ratischeff, haben sie sehr fein geschliffen. Mit der Bestrafung dieses Mannes wurde zugleich der Zensor zur Verantwortung gezogen. Er entschuldigte sich damit, dass das Manuskript nach der Zensur verändert worden sei. Dies mochte nun gegründet sein oder nicht, kurz seit der Zeit wird kein Manuskript bei der Zensur angenommen, das die geringste Korrektur hat. Wie schlimm dies ist, wird jeder wissen, der nur einmal etwas von Belang geschrieben hat. Noch schlimmer aber ist die peinigende Langsamkeit der Zensoren. Der Professor Wolke hat Jahre lang auf die Zensur einer allgemeinen Weltgeschichte in russischer Sprache gewartet, und, so viel ich weiß, sie doch nicht abwarten können. Freilich kam vieles zusammen, was Zögerung verursachte. Anfangs hatte er die biblische Geschichte seinem Buch einverleibt, und erst, nachdem er erfuhr wie schwierig der Synod sei, wieder abgeschnitten;


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dann hatte er in dem Manuskript korrigiert, und die Weisung erhalten, ein anderes zu fertigen. Aber selbst, nachdem alles aufs reine war, hat das Manuskript über Jahr und Tag bei dem Zensor gelegen. Und dies ist auch in der Tat nicht zu verwundern --- Der Zensor ist der Oberpolizeimeister, der gewöhnlich so viel zu tun hat, das ihm für die Bücher wenig Zeit übrig bleibt, wenn man auch nicht sagen wollte, das ihm in der Regel für dieselben wenig Sinn zu Teil geworden ist. Es ist ein General --- und wahrhaftig, wenn bei uns die Kommandanten, die doch gewiss nicht soviel zu tun haben als der in Petersburg, die Zensur über sich hätten, so würde nicht der hundertste Teil von den Büchern gedruckt, die alle Messen erscheinen. Doch muss ich noch hinzugesetzt, das selbst diejenigen Männer, welche ein vorzügliches Interesse an der Ausbreitung von nützlichen Kenntnissen haben sollten, bisweilen nicht minder saumselig sind. Die Schulkommission hatte den Archivar Stritter in Moskau aufgefordert, eine russische Geschichte zu schreiben, und als ich in Moskau war,

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sein Manuskript für sieben Bände schon zwei Jahre aufgehalten, ohne ihm nur die geringste Auskunft darüber zu geben. Wer weiß ob es nicht noch jetzt nach sechs Jahren unberührt liegt. Es ist dies sehr Schade. Die Geschichte Russlands würde besonders während der tatarischen Periode große Aufklärung erhalten haben. Unter den Mitteln zur sittlichen Kultur ist unstreitig die Religion eines der wirksamsten, nur muss sie von Aberglauben immer in dem Maße gereinigt werden, in welchem der Mensch denken lernt; sonst wirkt sie entweder gerade das Gegenteil, oder wird mit dem Aberglauben zugleich verworfen. Unter den höheren Ständen hat sie in Russland jetzt häufig dies doppelte Schicksal, weil sie eben da mit dem Geiste der Zeit nicht gleichen Schritt hält. Es ist bekannt, das der öffentliche Gottesdienst meistens in langweiligen Zeremonien und Gebeten besteht, die dem Geiste des Christentums ganz zuwider sind.

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Auch mir war dies bekannt, ehe ich nach Russland kam; indessen habe ich es doch noch stärker gefunden, als ich mir vorstellte. Denn selbst dann, wenn man aus Vergünstigung die Langweiligkeit etwas mildern will, ist sie in meinen Augen tötend. Dies fand ich besonders bei der Kommunion. In der Regel müssen diejenigen, welche Teil daran nehmen wollen, sich mehrere Tage hinter einander täglich zweimal bei dem öffentlichen Gottesdienst einfinden, wo außer den gewöhnlichen Gebeten und Gesängen, die ganzen vier Evangelien verlesen werden. Wem dies zu lästig dünkt, der lässt einen Popen mit seinem Lektor einige Tage hinter einander auf seine Stube kommen. Der Lektor erscheint dann als die Hauptperson. Die Gebete, die er verliest, werden nur durch sehr kurze Zwischenreden von dem Popen unterbrochen, und dauern wenigstens eine Stunde, hauptsächlich am Kommunion Tage vor der Beichte. Ich hörte einst solchen Gebeten in der Nebenstube zu, und hatte dabei eine sehr ängstlich widrige Empfindung.

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Der Lektor sprach sie mit einer Schnelligkeit her, die deutlich den Wunsch verriet, bald fertig zu werden; und verdenken konnte man ihm diesen Wunsch eben nicht. Hätte er die Gebete mit dem gehörigen Tone gelesen, so würde er statt einer Stunde ihrer wenigstens drei gebraucht haben. Bei dem Gottesdienst in der Kirche wurde dann wieder wenigstens zwei Stunden hinter einander von den Priestern unter einigen Zeremonien vorgebetet und vorgesungen. Unmöglich ist es dem denkenden Menschen, einen solchen Gottesdienst ohne lästige Empfindung abzuwarten. Alles was er tun kann ist, in sich selbst gekehrt ruhig am Ende der Gebräuche und Gebete entgegen zu sehen; und wie wenige Menschen haben Stoff und
Ernst genug um selbst dies zu können! Auch sah ich dabei von den ersten Personen der kleinen Versammlung ein Betragen beobachten, das den Wunsch erregte, sie möchten sich lieber der Kommunion ganz entzogen haben.

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Es war der Versammlungsort in der Kirche nur so groß, als eine sehr mäßige Stube;*) die Anzahl der Personen belief sich nicht über zwölf, und unter diesen plauderten und lächelten die vornehmsten fast unaufhörlich. Ja es war deutlich zu merken, das sie eben über das spotteten, was sie taten, und was um sie her vorging. Besonders belächelten sie die Ehrfurcht, mit der einige Personen die Füsse der heiligen Bilder küssten, wenn sie sich gleich eben dieser Zeremonie unterwerfen mussten. Das sie sich gern der ganzen Kommunion entzögen, versteht sich von selbst. Auch würde mancher Pope nichts dagegen haben. Ich sah wenigstens einen sehr toleranten. Als bei ihm eine nichtige Entschuldigung darüber vorgebracht wurde, das eine Person nicht zu Ostern kommuniziert hatte, sagte er, der eben seine Ostergabe empfangen sollte: Gott siehet das Herz an. Aber immer können sie nicht so tolerant sein, als sie vielleicht wollten.

*) Das was wir Sakristei nennen, war es nicht, sondern ein abgeschnittenes und zu einer Art von Kapelle eingerichtetes Stück der, eben um die Kirche laufenden Galerie.

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Die Namen der Kommunikanten müssen jährlich an den heiligen Synod geschickt werden; und dieser könnte es doch sehr übel empfinden, wenn vornehme Personen die Sakramente ganz zu verachten schienen. Er straft bisweilen noch kleinere Vergehungen. Als einst bei einer Prozession ein General sich geweigert hatte, eine dargebotene Kerze zu tragen, soll er zu einer ziemlich ansehnlichen Geldstrafe verurteilt worden sein. Offenbare Verachtung der religiösen Gebräuche dürfen also die Großen nicht äußern. Doch hat man für sie in Absicht auf die Kommunion, die, wie gesagt, vorzüglich lästig ist, etwas erfunden, was bisweilen an ihre Stelle gesetzt wird. Man lässt nämlich den Pope einige mal zum Gebet kommen, gibt ihm das Seinige, und kann dann wohl hoffen von ihm unter die Liste der Rechtgläubigen gesetzt zu werden. Wenn man das religiöse Zeremonienwesen immer noch so unabgeändert fortsetzen sieht, wie es in den Jahrhunderten der Finsternis eingeführt wurde,

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und nicht einmal einen Vorschlag zur Verbesserung laut werden hört; so ist man in Versuchung, zu glauben, die Geistlichkeit setze selbst noch einen sehr hohen Wert auf gedankenlose Gebräuche. Uneingeschränkt aber wäre dieser Glaube gewiss nicht gegründet. Man sehe Plato´s Lehrbuch der Religion an, und man wird finden, das es mit den besten Büchern, die nach dem Lehrbegriff der protestantischen Kirche zum Unterricht für die Jugend geschrieben sind, wetteifern kann. Den Kirchengebräuchen ist durchaus kein anderer Wert beigelegt, als den sie haben können, wenn sie zweckmäßig sind; und die Zweckmäßigkeit der Gebräuche in der griechischen Kirche ist nur obenhin berührt. Hiermit stimmen auch oft die mündlichen Äußerungen der Geistlichen überein. Mir sagte einer ausdrücklich; das die Kirchenzeremonien keine göttlichen Verordnungen wären, und wohl abgeändert werden könnten; man müsse sie nur um des Volkes willen beibehalten.

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Aber freilich schien er von dieser Notwendigkeit auf eine Art überzeugt, welche mir sehr auffiel. Er sprach in dem Heiligen der Kirche mit mir, während das in demselben der Gottesdienst zum Besten des, in der Vorhalle stehenden Volkes verrichtet wurde. Lag schon darin eine Unschicklichkeit, so war sie doch sehr gering gegen eine andere, die einen sonderbaren Kontrast mit unserem Gespräch machte. Der Pope, welcher die Liturgie mit den gewöhnlichen Zeremonien verrichtete, unterbrach dieselbe, um den Protopopen, der mit mir sprach, zu sagen, das der Chorknabe etwas versehen habe. Ob er sich einmal zu wenig gebückt, oder sonst etwas der Art vergessen hatte, verstand ich nicht. Aber etwas wichtiges musste es sein. Der Protopope hatte kaum den Bericht vernommen, als er den Knaben bei den Haaren fasste, auf die Erde drückte und schleifte. Hätte der Knabe geschrien, wie das bei der unsanften Art, auf welche er behandelt wurde, leicht möglich gewesen wäre, so würde ein entsetzlicher Skandal entstanden sein.

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Mir fiel endlich dabei der Offizier ein, der ohne Fuss treten mit seinen Kosaken nicht fertig werden zu können glaubte, und jener deutsche Major, der, nachdem er Amtmann geworden war, immer behauptete, das sich ohne Fuchtel mit seinen Untergebenen nichts ausrichten ließe. Außer der tötenden Langweiligkeit der Zeremonien in der griechischen Religion ist ferner nicht zu vergessen, das einige Gebräuche unmittelbar einen höchst schädlichen Aberglauben begründen. Man teilt das Abendmahl Kindern von ein bis zwei Jahren mit. Dies ist nicht nur dem Geiste sondern sogar dem Buchstaben des Christentums ganz zuwider, und notwendig von schlimmen Folgen für die echte Religion. Ja es gibt eine religiöse Zeremonie, die den Körper mit dem Geiste zugleich tötet. Ich meine den Gebrauch, am hohen Neujahr mit großer Feierlichkeit das Wasser eines Flusses zu weihen. Wahrscheinlich kommt der ganze Gebrauch aus dem Heidentum. Denn weder in der Geschichte der christlichen Religion, noch in der Accommodation einer biblischen Stelle, finde ich den geringsten Grund dazu.

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Möchte er indessen einen Ursprung haben, welchen er wollte, wenn er nur nicht gerade zu auf die aller schädlichsten Irrtümer führte. Von dem geweihten Wasser teilen die Priester dem Volke mit, und machen ihm weiß oder lassen es doch in dem Wahn, dass es vorzügliche Kräfte habe. Der gemeine Mann hebt es das ganze Jahr über auf, sieht es als das kräftigste Arzneimittel an, und weißt oft jedes andere zurück. Wozu anders sollte auch das Wasser ausgeteilt und aufgehoben werden? Diese Bemerkungen über den Geist der herrschenden Religion in Russland, schließe ich mit einer über die Toleranz derselben. Seit Peters I. Zeiten ist außer den Juden *) kein Mensch um seiner besondern Religion willen von irgend einem Amte ausgeschlossen gewesen;

*) Vielleicht werden künftig auch diese zu allen Ämtern zugelassen. Der Eingang dazu ist dadurch gemacht, das in den ehemals polnischen Provinzen Juden im Stadtmagistrat sein können.

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und die Glaubensgenossen vieler christlichen Religionsparteien können ihre Kapellen oder Kirchen überall haben, wo sie die dazu nötigen Kosten aufzubringen vermögen. Diese großeToleranz ist für den Staat ohne alle schädlichen Folgen. Was man sonst von dem Geiste der Katholizismus und besonders von dem Jesuitismus fürchtet, ist bis jetzt wenigstens nicht eingetroffen. Es stand irgendwo, als ein Zeichen von Gefahr, das der Generalgouverneur Graf Browne einen Exjesuit zum Kaplan, und einen anderen zum Hofmeister seines Sohnes habe. Ich muss noch hinzusetzen, dass, als der erste Kaplan starb, wieder ein Exjesuit an seine Stelle kam. So gefährlich dies alles aussieht, so hat doch kein Mensch, der die Lage der Dinge in der Nähe sah, irgend eine Gefahr wittern können. Der erste Kaplan war ein Mann, der sich außer den notwendigsten Verrichtungen seines Amtes gewiss um nichts anderes, als um einen Genuss bekümmerte, der ihn in die Klasse der groben Epicureer setzte.

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Bei seiner Lebensart hatte er gar nicht Zeit tätigen Anteil an geheimen Planen zu nehmen. Der zweite Kaplan lebte zwar viel eingezogener, war aber ein so schlichter und gerader Mann, das er sogar in der Leichenpredigt seines Brotherrn weit mehr Unparteilichkeit zeigte, als man da zu erwarten gewohnt ist. Sieht man selbst in dieser einen Kniff, wie man allerdings sehen kann, wenn man durch ein eignes Glas sieht, so werden sich doch meine Augen nie an dasselbe gewöhnen können. Hätte der eine oder der andere Kaplan auf den Generalgouverneur zur Ausbreitung der katholischen Religion wirken sollen, so würde er dem Geiste seines Ordens wenig Ehre gemacht haben. Zur Zeit der Regierung des ersten konnte die katholische Gemeinde in Riga nicht einmal eine sehr billige Bitte durchsetzen. Sie hielt ihre Versammlungen in einem hölzernen Hause auf dem Platze vor der Zitadelle, bis sie sich im Stande sah, eine eigene Kirche zu bauen. Der Plan dazu war gemacht, als der Befehl erging, alle hölzernen Gebäude auf jenem Platze abzubrechen.

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Die Gemeinde bat vergebens um Frist, ob sie dieselbe gleich wahrscheinlicher Weise erhalten haben würde, wenn der Generalgouverneur sich bei der Monarchin dafür hätte verwenden wollen. Denn noch steht ein hölzernes Haus dort, bloß deswegen, weil es einem General gehört. Das hohe Bedürfnis einer ganzen Gemeinde verdient doch wohl so viel Rücksicht als der Stand eines einzelnen Mannes! Gesetzt aber die katholische Religion strebe im russischen Reiche, wie überall, um sich zu greifen, so steht ihr ein Gesetz entgegen, welches nicht nur das verdienst der Toleranz sehr schmälert, sondern auch in den Augen jedes Menschen, der auf wahre Religiosität einigen Wert setzt, großen Schaden tut. So wenig nämlich irgend ein Mensch seiner Religion wegen angefeindet oder zurück gesetzt wird, so ist er doch in Rücksicht auf seine Kinder, sehr eingeschränkt. Diese müssen schlechterdings in der griechischen Religion erzogen werden, wenn Vater oder Mutter in derselben geboren sind.

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An einen Vergleich unter diesen selbst ist nicht zu denken. So gehen die Nachkommen vieler Deutschen von der Religion ihrer Väter ab, zum größten Nachteil wahrer Religiosität und Sittlichkeit. Über jenes Gesetz wird sehr strenge gehalten. Wenn irgend ein Geistlicher von den tolerierten Religionsparteien mit Vorwissenheit ein Paar traut, wovon der eine Teil in der russischen Kirche geboren ist, oder das Kind eines solchen Paares tauft, so wird er abgesetzt. Dies erstreckt sich sogar auf uneheliche Kinder, und bringt die Prediger in Liefland bisweilen in große Verlegenheit. Die russischen Soldaten liegen den Winter über auf den Dörfern und tragen da zur Bevölkerung bei. Was ist nun dann zu tun? Die Mutter will ihr Kind getauft haben; ein russischer Pope ist nicht da; und wäre er auch da, so hält doch gewöhnlich die Mutter so viel auf die Taufe ihrer Religion, das sie glaubt, ohne dieselbe werde ihr Kind ein Heide. Wächst es nun ferner heran, so entsteht eine neue Schwierigkeit.

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Es bleibt selbst nach dem Gesetze dem Herrn des Guts leibeigen; da ist aber keine Gelegenheit zum Unterrichte in der griechischen Religion, kein Gottesdienst für dieselbe; und in der protestantischen darf es nicht erzogen werden. So muss denn entweder daraus wirklich ein Heide, oder das Gesetz mit Lug und Trug übertreten werden. Überhaupt sieht es auch mit dem Einfluss der Religion auf das Leben der Letten schlimm aus. Er wird zwar nicht ganz so wie bei den Russen, aber doch sonst auf mehr als eine Weise gehindert. Mancher Prediger der Menschenliebe plagt diejenigen Bauern, die ihm Frondienste leisten müssen nicht minder, als der Edelmann die seinigen und verlangt wohl auch von den übrigen armen Eingepfarrten mehr, als er dem, oft schon drückenden Rechte nach sondern sollte. Was kann man dann für Wirkungen von seinen Lehren erwarten? Offen für dieselben kann ein großer Teil der Letten überhaupt nur in so fern sein, als sie des Trostes und der Aussicht auf ein besseres Leben bedürfen, um für das gegenwärtige nicht zu verzweifeln.

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Wird aber auf diese Weise wirklich manches Herz der Religion geöffnet, so wird auch manches derselben verschlossen, besonders, wenn sich das Elend nicht auf kurze Zeit oder einzelne Menschen eingeschränkt, sondern über ganze Gegenden und lange Zeiträume verbreitet. Überdies ist, wie ich in einem anderen Brief bemerkt habe, der Religionsunterricht sehr mangelhaft, und wie sie schon vermuten werden, die Muse dazu bei der lettischen Jugend sehr eingeschränkt. Endlich sind die Prediger bisweilen nicht einmal der Sprache mächtig, in der sie lehren, raten und trösten sollen. Denn es gibt viele Ausländer unter ihnen, die erst im reifen Alter, oft kurz zuvor, als sie angestellt werden, sich einigermaßen in der lettischen Sprache üben; und wie dürftig muss nicht dann die Kenntnis derselben für lange Zeit bleiben! Eine mit dem Wörterbuch und der Grammatik zur Seite gemachte Predigt, ist doch gewiss gewöhnlich ein elendes Machwerk.

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Eben deswegen hat auch jeder Pastor, welcher der Sprache nicht mächtig ist, das Recht, drei Jahre nur fremde Predigten vorzulesen. Es versteht sich dabei von selbst, das er drei Jahre lang auch das Recht hat, von den Bauern nicht verstanden zu werden, und sie nicht zu verstehen. Die ordentliche Aussprache soll ihre großen Schwierigkeiten haben, und ein falscher Accent auf eine Silbe gelegt, die sonderbarsten Missverständnisse geben können. Mir ist versichert worden, das mancher Prediger die Sprache, in der er lehren soll, in seinem Leben nicht ordentlich lernte.
Was den Edelmann und den Bürger in Liefland betrifft, so bleibt freilich vieles für die Religiosität des Einen wie des Anderen zu wünschen übrig, und man kann auch mehrere Hindernisse derselben angeben. Allein ich halte mich hier nicht dabei auf. Die besonderen habe ich schon beiläufig angeführt; und über die allgemeinen würde eine Jeremiade am unrechten Orte sein. Denn sie zeigen sich zum Teil nicht einmal so stark als in andern Gegenden.

--279--
Besonders ist der liberale Geist des Protestantismus nicht knechtisch geworden, oder doch, nachdem er Knechtsgestalt angenommen hatte, nicht dabei geblieben. Der Exorzismus bei der Taufe, das langweilige Singen vor dem Altar ist abgeschafft, in den Gebeten, die nicht bestimmt vorgeschrieben sind, Abwechslung möglich, die allgemeine Beichte herrschend, und die geheime nur noch für wenige Personen, die nicht davon abgehen wollen, beibehalten. Überdies ist bei der Taufe der Wunsch, das man die Kinder nicht der Lebensgefahr aussetze, längst erfüllt. Die Kinder werden in der geheizten Sakristei mit lauem Wasser getauft. Sind die symbolischen Bücher in Liefland immer noch, wie in den meisten protestantischen Ländern, das Evangelium, das dem wahren vorgezogen zu werden scheint, so wird doch in dieser Rücksicht nicht mit der Strenge verfahren, wie an vielen anderen Orten.

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Das die öffentlichen weltlichen Beamten nicht darauf zu schwören haben, versteht sich von selbst, da Katholiken, Griechen und Reformierte von keiner Stelle ausgeschlossen sind; aber auch von den Predigern verlangt man im Grunde höchstens, das sie nichts, jenen Büchern zuwiderlaufendes vortragen; und ich habe manche Predigt gehört, die denselben eben nicht gemäß war, ohne das geringste Aufsehen zu erregen. Auch hat sich der Generalsuperintendent Lenz sehr bestimmt als ein Muster von Toleranz gezeigt. Er ist ein Mann hoch in die siebzig, vielleicht eben deswegen in dem alten Glauben fest, und sieht selbst in solchen Dingen, die weder in der Bibel noch in den symbolischen Büchern gegründet sind, Neuerungen eben nicht gern. Aber die letzten lässt er ohne Widerstand durchgehen; und in Rücksicht auf die Lehre gibt er so viel nach, als nur ein Mann von seinem Glauben bei Gewissenhaftigkeit nachgeben kann. Vor einigen Jahren meldete sich ein Kandidat zum Examen, und erhielt von ihm zum Thema der lateinischen Ausarbeitung, die bei dem Kandidaten Examen gemacht werden muss.

--281/282--
Die Versöhnungslehre mit Bestimmungen in der Disposition, die seiner Überzeugung ganz zuwider waren. Er schrieb deswegen an den Generalsuperintendent und erklärte, das er lieber nie Prediger werden, als sich zu einer Lehre bekennen würde, die ihm selbst in der Bibel nicht so bestimmt wäre, als er sie vortragen sollte. Der Generalsuperintendent tat nun alles Mögliche, um ihn von seinem Irrtum abzubringen, und schrieb einen weitläufigen Beweis seines Glaubens. Als dieser nicht wirkte, so schlug er dem Kandidaten als Bedingungen der Admission (Eintritt) zu einem Predigtamt nur vor, das er in demselben die Lehre, wie sie in der Schrift und den symbolischen Büchern enthalten sei, vorsehe, um aber seiner Überzeugung nicht Gewalt anzutun, hinzusetze: so lehret die protestantische Kirche. So viel dies schon ist, so tat er doch noch mehr. Da er tiefen Schmerz bei dem ganzen Vorgang empfunden hatte, und fürchtete, er möchte wider seinen Willen das Examen zu scharf machen, entschlug er sich desselben ganz und gab seinem Sohn, dem Oberpastor in Dörpt, Auftrag dazu. Segen über einen solchen Mann und Nachfolge seinem Beispiele!

--283-- Anhang.
Herr Merkel hat in dem mehrmals angeführten Halbroman: Die Rückkehr ins Vaterland, sehr harte Beschuldigungen gegen den ehemaligen Magistrat in Riga erneuert. Darf nun auch ein Halbroman nicht als Quelle der Geschichte angesehen werden, so verleitet er doch leicht manches für war anzunehmen, was es nicht ist; und überdies hat Herr Merkel in der Vorrede zu dem seinigen allerdings darauf geleitet, das seine Schilderungen von Liefland als Wahrheit angenommen werden sollen. Denn nach dem, was er zuvor über sein Vaterland geschrieben hat, kann man sein Verwahren gegen einen solchen Gebrauch seiner Schrift nur für Persiflage halten. Auch sind die einzelnen Tatsachen sowohl, als die Schilderungen der Sitten, die etwaigen Verstärkungen ausgenommen,

--284--
die in einem Halbroman eher gelobt als getadelt zu werden pflegen, größtenteils zu wahr, als das derjenige, welcher mit dem Lande bekannt ist, selbst ohne alle Erklärung von Seiten des Verfassers, nicht eine Absicht vermuten sollte, die bloß durch wahre Geschichte erreicht werden kann. Endlich ist die Stelle, weswegen hauptsächlich alle diese Anmerkungen hier gemacht werden, und worauf ich nun komme, von der Art, das sie selbst nicht in einem Roman aufgenommen werden sollte, wenn sie nicht streng wahr wäre. Sie steht S. 144 und heißt so: "Kaum war die alte Verfassung der Stadt Riga aufgehoben, so zeigte die Beschaffenheit der Finanzen allein, vormals ein Staatsgeheimnis, wie verderblich sie gewesen war. Die Kassen waren erschöpft, die Stadtgüter verschuldet, und die Fonds der meisten Stiftungen vergeudet.
Wohin diese Summen gekommen sein, konnte freilich niemand nachweisen, aber man erriet leicht, das die meisten nach Petersburg gegangen waren, um den alte Patriziern die Fortdauer ihrer Vorzüge zu sichern.
Sie hatten die Stadt verschuldet, um ihre Familien in Besitz der Usurpationen zu erhalten: Die Väter der Stadt!"

--285--
Nach dem, was ich über den Verfall der Finanzen von Riga in dem siebenten Brief angeführt habe, konnte wohl jedermann wissen, woher dieser Verfall kam. Der Dünabau, welchen Herr Merkel auch gelegentlich berührt, hatte schon bis zur Einführung der neuen Stadtordnung 1,100,000 Alberts Thaler sächsisch gekostet, eine extra ordinäre Ausgabe, die allein das Vermögen einer Stadt, wie Riga, ruinieren kann. Der Wert aller Stadtgüter und die Fonds aller Stiftungen belaufen sich schwerlich so hoch. Die Vergeudung der letzten ist überdies sehr uneigentlich zu nehmen. So lange die Stadt in guten Umständen war, hat sie aus ihrem Vermögen für die Armen mehr getan, als nach jenen Fonds hätte getan werden können; und als sie dies unmittelbar nicht vermochte, so sind dieselben nicht etwa, wie aus einem Schiffbruch, zum Teil gerettet, sondern nur auf ihre ursprüngliche Größe reduziert worden, wie ich Th. I. S. 239 angeführt habe.

--286--
Was man dem alten Magistrat etwa in Beziehung auf die Verwaltung der milden Stiftungen vorwerfen konnte, war bloß, das er nicht abgesonderte Rechnungen darüber gehalten hatte. Alles dies führe ich nach dem Zeugnis von Männern an, die vor oder nach der neuen Einrichtung der Dinge an der Verwaltung der Stadtfinanzen unmittelbaren Anteil genommen haben, und teils ihres Charakters, teils ihrer Lage wegen, gar nicht in den Verdacht der Unwahrscheinlichkeit fallen können. Die Angaben der oben bestimmten Summe für den Dünabau habe ich von dem nun verstorbenen Rat Grave, ehemaligen Kastenherrn oder Kämmerern, einem der verständigsten und redlichsten Männer in Riga, der auch das Vertrauen der Bürgerschaft bei der neuen Stadtordnung ununterbrochen besessen hat.

--287--
Bei Einführung derselben wurde er zum Mitglied des Gouvernements Magistrat gewählt, bei der zweiten Wahl als solcher bestätigt, und bei der dritten nur deswegen von einem andern ersetzt, weil er erklärte, das er seines Alters wegen die vereinte Last der Gerichts- und der Handelsgeschäfte nicht mehr tragen könne.*) Von ihm habe ich auch manches, was die Verwaltung der Stadtfinanzen überhaupt angeht. In Rücksicht auf die Fonds der milden Stiftungen ist mein Gewährsmann hauptsächlich der Kaufmann Bruno, der keinen Teil an der Finanzverwaltung unter dem alten Magistrat, aber nach Abschaffung desselben als Mitglied des sechsstimmigen Rates den Auftrag hatte, die wahren Fonds der milden Stiftungen zu bestimmen, und während der ganzen neuen Einrichtung zu einem Stadtamt gewählt worden ist.

*) Er gehörte zu denjenigen Kaufleuten, die nicht bloß den Sitzungen des Gerichts beiwohnten, sondern selbst referierten.

--288--
Das übrigens der Verfall des rigaischen Stadtvermögens außer dem kostbaren Dünabau noch andere Ursachen habe, die nicht dem alten Magistrat, sondern von oben herab anbefohlenen Einrichtungen zur Last fallen, nämlich die vermehrte Ausgabe für die Polizei und die verminderte Einnahme bei dem Zoll*) ist in Riga zu notorisch, als das es einzelner Zeugnisse bedürfe. Das dessen ungeachtet Herr Merkel dies nicht weiß, ist eben nicht wunderbar, da er von der Zeit an, wo solche Dinge ihn interessieren konnten, fast immer auf dem Lande gelebt hat. Eben daher kommt auch seine ganze falsche Vorstellung von der Wirkung der neuen Einrichtung auf den Luxus. Nach ihm soll er durch dieselbe in vier Jahren
üppiger emporgeschossen sein, als zuvor in vierzig Jahren.**) Die Vergleichung lasse ich dahin gestellt, da ich zwar beinahe die ganze Zeit während welcher die neue Einrichtung bestand, aber nicht in den vorhergehenden vierzig Jahren in Riga gelebt habe.

*) Von der ersten S. B. I. S. 280 und von der anderen S. 237.
**) S. die Rückkehr ins Vaterland, S. 143.

--289--
An ziemlichen Luxus in anderen Städten gewöhnt, könnte es sein, das mir das rasche Steigen desselben dort nicht aufgefallen wäre. Wenn aber Herr Merkel als Ursachen dieses Steigens sowohl die große Anzahl von Personen, welche alle mittleren Alters, vermöge der dreijährigen Wahlen, zu den Stadtämtern gelangten, als die Teilnahmen des Handwerkstandes an denselben angibt, so ist jeder Punkt dieser Behauptungen falsch. Der größte Teil der Männer, welche einmal gewählt waren, wurde auch wieder gewählt. Ich müsste mich sehr irren, wenn vor den ersten 16 Mitgliedern des Stadtmagistrats nicht wenigstens 9, und von den 6 Mitgliedern des Gouvernements Magistrat 5, entweder zu gleichen oder andern Stellen gewählt worden,*) und von diesen 14 Männern nach der dritten Wahl nicht 9 angestellt geblieben wären.

*) Die mir erinnerlichen wieder gewählten Mitglieder des Stadtmagistrats hießen: Böteseur, Sengbusch, Bredschneider, Hübbenet, Barclai de Tolli, Ramm, Dresden, Scheumann, Kruse und die des Gouvernements Magistrats: Grave,Zuckerbäcker, Falk, Schröder, Wilpert. Das alle diese Männer durch die erste Wahl angestellt wurden, findet man in Schlözers Staatsanzeigen von 1787 No. XI. S. 396 und 399.

--290--
Von den nicht wieder gewählten, waren alle diejenigen, auf die ich mich genau besinne, entweder gestorben oder auf das Land bezogen, oder um ihres Alters willen auf ihr Verlangen übergangen. Überhaupt wurde es als etwas Auffallendes angesehen, wenn ein Beamter wider seinen Willen bei einer neuen Wahl durchfiel. Bei der dritten ist mir, im Stadt- und Gouvernements Magistrate zusammen, nur ein einziges solches Beispiel bekannt; und dabei war es noch merkwürdig, das der ausgeschlossene Mann, der Bürgermeister B.... auf Empfehlung der Regierung in der Zeit zwischen den Wahlen befördert worden war.*)

*) Dieser Mann hatte gehofft Haupt zu werden, und war der einzige Wähler, welcher dem vorhergehenden, dem jetzigen Bürgermeister Sengbusch seine Stimme nicht gab.

--291--
Ich habe oben gesagt, das verschiedene Männer ihres Alters wegen von den Ämtern abgingen. Wenn man nun weiß, das nach der neuen Stadtordnung bloß ein Alter von sechzig Jahren in dieser Beziehung entschuldigt, so wird man schon daraus vermuten, das es mit dem mittleren Alter, das Herr Merkel allen Beamten zuschreibt, schwerlich seine Richtigkeit habe. Doch da das mittlere Alter nicht genau bestimmt ist, so führe ich noch an, das jene ersten Beamten alle der fünfzig nahe nahe oder über dieses Alter hinaus waren, und das mancher, wie z. B. der Rat Grave, sich noch nach dem sechzigsten Jahre wählen ließ. Nachher wurden freilich einige Männer angestellt, die nicht viel über, oder auch etwas unter vierzig Jahr alt waren. Im ganzen qualifizieren sich aber doch die Stadtbeamten in Riga, ihrem Alter nach, weit mehr zu dem Titel der Väter der Stadt, als in so mancher andern.

--292--
Was endlich die Teilnahme des Handwerksstandes an den Ämtern betrifft, so haben diejenigen Beamten, unter welchen wirklich mehrere Handwerker waren, z. B. die mündlichen Richter, nicht mehr Ansehen, als die vor der neuen Einrichtung vorhandenen Ältesten der kleinen Gilde, oder die in den deutschen Städten gewöhnlichen Viertelsmeister und Gassenschöppen. Bei dem sechsstimmigen Stadtrate war immer höchstens ein Mitglied aus dem Handwerksstande, nämlich für die Zünfte, außer dem Haupt derselben, welcher bisweilen Sitz in jenem Rate hat; und bei dem Stadtmagistrat sowohl als bei dem Gouvernements Magistrat war nie ein einziger Handwerker angestellt.*) Auch konnte keiner nach der Stadtordnung dabei angestellt sein, wenn er sich nicht in die zwei ersten Kaufmannsgilden einschreiben ließ. Nur diese sind Wähler und wählbar zu jenen Ämtern.**)

*) Hiermit stimmt in Beziehung auf die erste Wahl der oben angeführte Aussatz aus Schlözens Staatsanzeigen überein.
**) Das war an manchen Orten, wo sich nur wenig Glieder in den beiden ersten Gilden befanden, schlimm. Für Dörpt erlaubte einst die Regierung eine Ausnahme von der Regel, aber nur auf untertäniges Bitten.

--293--
In Hoffnung darauf hatte sich der eine oder andere anfangs wirklich in die Gilden einschreiben lassen, war aber bald wieder abgegangen, nachdem er seine Hoffnung getäuscht gesehen hatte. Wem es scheinen sollte, als habe ich mich bei diesen letzten Punkten zu lange aufgehalten, dem stimme ich völlig bei, in so fern nur auf den Hauptsatz, das der Luxus durch die neue Ordnung der Dinge vermehrt worden sei, Rücksicht genommen wird. In so fern aber die angegebenen Gründe als Tatsachen falsch sind, und leicht zu einem falschen Urteile über wichtige Punkte verleiten können, scheinen mir die gegebenen Berichtigungen nicht zu lang. Sie zeigen erstlich nicht nur überhaupt, das die Freiheit von oft wiederkommenden Wahlen an sich gar nicht den üblen Einfluss habe, den man ihr häufig ohne Einschränkung zuschreibt, sondern auch, das die rigaischen Bürger besonders einer solchen Freiheit würdig und fähig waren;

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und zweitens, das die neue Stadtordnung nicht sowohl demokratisch als aristokratisch war. Überdies ist die Bemerkung von offenbaren Unrichtigkeiten in unwichtigen aber leicht auszumachenden Dingen von Bedeutung für die Untersuchung solcher, die mehreren Schwierigkeiten unterworfen sind. Doch sind diese auch bei dem vorliegenden Hauptpunkt nicht sehr groß. Jeder nur einigermaßen unterrichtete Bürger in Riga weiß im ganzen, das der Dünabau dieser Stadt ungeheure Summen gekostet hat, das ihre Einnahme bei dem Zoll sehr vermindert, und ihre Ausgabe bei der Polizei sehr vermehrt worden ist. Der Leser mag nun urteilen, ob unter solchen Umständen der Verfall des rigaischen Stadtvermögens eine bloße Vermutung von der Untreue des alten Magistrates notwendig mache.

Ende der 2. Sammlung.

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Einführung: Lebenlauf / Literarische Erzeugnisse

Erste Sammlung: Brief I. / Brief II. / Brief III / Brief IV / Brief V / Brief VI / Brief VII / Brief VIII

Zweite Sammlung: Brief IX / Brief X / Brief XI / Brief XII / Brief XIII

Dritte Sammlung: Brief XIV / Brief XV / Brief XVI/Biographie