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Johann Karl Wilhelm Ose (1798-1880)

seine Ehefrau Emilie Auguste geb. Voigt (1810-1848)

und ihre Familie

Teil 1 Teil 2 Teil 3 Teil 4 Teil 5 Nachträge und Ergänzungen

Man fuhr auch nachts
Im folgenden wird nachgewiesen, dass die normalen linienmäßigen Posten auch nachts fahren mussten, um die angegebenen Fahrzeiten bei den gegebenen bekannten Geschwindigkeiten (Reisegeschwindigkeiten von etwa 10km/h) einzuhalten:

o Tauroggen - St. Petersburg, ca.800 km Extrapost
Abfahrt: Sonntag 7 Uhr
Ankunft: Mittwoch 3 3/4 Uhr
Fahrzeit 69 1/4 Stunden
Mittlere Geschwindigkeit: 800/ 69 1/4 rund 11,5 km/h
o Berlin - Königsberg ca. 57o km
Schnellpost
Abfahrt: Sonntag 19 Uhr
Ankunft: Mittwoch 6 Uhr
Fahrzeit: 59 Stunden mittlere Geschwindigkeit: 570/59 rund l0 km/h

Aus den beiden Beispielen geht klar hervor, dass man auch nachts reisen musste, um in der angegebenen Zeit die infrage kommende Strecke zurückzulegen, wenn man Richtwerte eine mittlere Reisegeschwindigkeit in der Größenordnung von 10 km/h zugrunde legt. dass man auch aus jahreszeitlichen Gründen nachts fuhr, z.B. um nicht in die winterliche Kälte zu kommen, berichtet C. Mono in seinem Brief an Karl Ose (siehe Teil 2).

Postkutschen
Aus Zedlers Universal-Lexikon von Joh. Heinrieh Zedler, (Leipzig, 1732):

o Die Post ist ein Wagen mit Wechelpferden zu Beförderung von Personen, Briefen, Gütern
o Man unterscheidet:

Ordinäre Post: Sie fährt nach Fahrplan und hat nur ein beschränktes Platzangebot, z.T. nur für 2 Personen.

Extrapost: "Wer geschwind reisen nimmt die Extrapost. Man fährt in der Regel mit "Vorspannpferden", d.h. man reiste nicht nur mit 2 Pferden, sondern spannte noch weitere 2, 4 oder gar 6 vor diese zwei Pferde vor. Man fuhr z.T.auch mit eigenem Wagen.

Die Schnellpost wurde erst im 19. Jahrhundert eingeführt. Sie galt als ganz besonders großer Fortschritt wegen ihrer kürzeren Reisezeiten.

Weitere Russlandreisende unserer Familie

Im Zusammenhang die der Russlandreise von Karl Ose in den Jahren 1844/45 sei darauf hingewiesen, dass wir in unserer Familie noch weitere Personen nennen können, die St. Petersburg (Leningrad) bzw. Moskau besucht haben:

Johann Christoph Kiesthaler (1829-19o9)

der Großvater meiner Mutter Hildegard geb. Bernhardi, war von 1851-1868 in Barmen (jetzt Wuppertal-.Carmen) zunächst als Mitarbeiter der Knopffabrik des Herrn Hösterey, später als Teilhaber der Knopffabrik Heegemann & Mesthaler berufstätig. Es gibt eine Aufzeichnung von dessen Tochter Berta Mesthaler (1864-1937) aus den 1930er Jahren folgenden Inhalts:

"Wie oft erzählte mein Vater von den Reisen nach Petersburg: einmal gins bei Dirschau (Westpreußen, jetzt Tczew/Polen) bei Eisgang über die hochgehende Weichsel."

Wir dürfen wohl annehmen, dass die Reise zumindest bis Königsberg mit der Eisenbahn erfolgte. Denn bei Eisgang und Hochwasser durfte man kaum die breite Weichsel mit einer Fähre überquert haben. Allerdings könnte die Fahrt mit der Eisenbahn zeitigstens 1857 stattgefunden haben, weil erst in diesem Jahr die durchgehende Eisenbahnverbindung Berlin-Königsberg eröffnet wurde, nachdem die erste große Weichselbrücke bei Dirschau fertiggestellt worden war (Länge 785m). Von Königsberg nach St. Petersburg musste man damals noch Postkutsche benutzen. Interessant an der obigen Notiz ist auch, dass Johann Christoph Mesthaler offensichtlich mehrere Reisen nach St. Petersburg unternommen hat. Diese Reisen hatten den Zweck, Geschäftsverbindungen anzubahnen bzw. auszubauen. Vielleicht wurden auch regelmäßig Messen in St. Petersburg besucht. Wir wissen, dass die Firma Heegemann & Mesthaler zu den regelmäßigen Ausstellern der Leipziger Mustermesse in den 1860er Jahren war. Wir kennen sogar das Messehaus.

Gertrud Ose, geboren 1907

Urenkelin von Karl Ose, hatte Physik, Mathematik und Leibesübungen an der Universität in Leipzig und Bonn studiert und war dann im höheren Lehramt tätig. In den 1950er Jahren erhielt sie eine Anstellung als Dozentin für Mathematik an der Ingenieurschule für Bauwesen in Leipzig. Sie war an der Herausgabe des Fachbuches "Ausgewählte Kapitel der Mathematik für Ingenieur- und Fachschulen" als federführender Autor massgeblich beteiligt. Sie verfasste für das Buch das Kapitel "Linearoptimierung" (1967, VEB-Verlag, Leipzig). 1966 flog sie als Vorstandsmitglied der Fachkommission für Mathematik beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen mit der DDR-Delegation zum Internationalen Mathematik-Kongress nach Moskau. Dort blieb sie 16 Tage. Der Kongress ließ ihr genug Zeit, viel Schönes kennenzulernen. Übrigens waren die Kongresssprachen Russisch, Englisch und Deutsch. Der mehrstündige Hin- und Rückflug von Berlin nach Moskau übertraf an Bequemlichkeit und Kürze des Zeitaufwandes die Postkutschenreise von Karl Ose in den Jahren 1844/45, also vor etwa 14o Jahren, um Größenordnungen. Die gute alte Zeit hätte sich Gertrud Ose für ihre Moskaureise bestimmt nicht herbei gewünscht.

Ambrosius Bethmann Bernhardi (1756-1801)*

lebte 9 Jahre in Russland und war ein guter Russlandkenner. Nach kurzem Studium der Theologie und auch der Jurisprudenz in Leipzig ging er von 1779-1782 als Hauslehrer nach Frankreich. Zurückgekehrt übernahm er in Leipzig die Führung des Grafen von Mengden, eines jungen Livländers. 1786 kam A.B. Bernhardi in das Haus der Gouverneurswitwe Naumov in Riga, wo er von 1786-1795 als Erzieher der beiden Söhne lebte. Er begleitete die Familie auch auf einer längeren Heise nach St. Petersburg (Leningrad) und Moskau und hatte auch dort Gelegenheit, sich eingehende Kenntnis über das russische Reich zu verschaffen. Seine Schriften über Russland wurden zu seiner Zeit gern gelesen:

o Züge zu einem Gemälde des russischen Reiches unter der Regierung von Katharina II (1729-1796) 3
In Briefen:
1. Sammlung 1798, 304 Seiten
2. Sammlung 1799, 294 Seiten
3. Sammlung 1807 in Freiberg

Der Name des Verfassers ist nie angegeben (Anm. Nach Recherchen im Internet sind diese Titel mit Namen des Verfassers A.B. Bernhardi gekennzeichnet)

o Über den Hang der Russen zum Trunk.
Eine Entgegnung zu einem Aufsatz eines Herrn Merkel in der Zeitschrift "Europäische Annalen': 1798. Wieder abgedruckt in dem "Gemälde..."

A.B. Bernhardi dürfte wohl einige Erfahrung mit der Postkutsche in Russland gemacht haben. Näheres wissen wir leider darüber nicht. Ob in seinen Russland-Büchern etwas darüber zu finden ist? Ja, folgt später.

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*) Es handelt sich um einen Vorfahren meiner Mutter Hildegard Ose geb. Bernhardi (1886-1947). Er war ein Bruder ihres Urgroßvaters August Gottlob Bernhardi (176o-1831)

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o Otto von Bismarck (1815-1892)

wurde 1859 preußischer Gesandter beim Zarenhof in Russland. Ab Königsberg war v. Bismarck auf die Postkutsche angewiesen. In Briefen an seine Frau - die Familie blieb zunächst in Frankfurt/Main zurück - schildert er die Postkutschenfahrt. v. Bismarck ist zwar kein Verwandter von uns, jedoch sind seine Schilderungen der winterlichen Postkutschenfahrt so eindrucksvoll, dass sie dem Leser dieses Heftes unserer Familiengeschichte nicht vorenthalten werden sollen:

Brief Nr. 273
Berlin,17.3.59

Soeben bekomme ich Bescheid von Petersburg, dass ein Postwagen für mich an der Grenze (Preußen - Russland) bereit sein wird.

Brief Nr. 275
Berlin, 22.3.59

Nachdem man mich ohne Not hier hat warten lassen, hieß es gestern Abend um 5 Uhr, dass ich schleunigst reisen müsse und spätestens heute Abend. Das tue ich nicht, sondern fahre erst morgen Mittwochabend.

Brief Nr. 276
Berlin,22.3.59

Morgen reise ich nun definitiv. 2 Uhr in Königsberg (bis dahin mit der Eisenbahn)

Brief 277
Königsberg, 24.3.59

Vor zwei Stunden bin ich hier angekommen, und schon hält der Postwagen vor der Tür, ein großer Vierspänner und ein Pack-wagen mit zwei Pferden. Morgen Mittag denke ich in Kowno zu sein.

Brief Nr. 278
Kowno, 25.3.59
abends 11 Uhr

Von Königsberg Schneegestöber bis hier, 6 Zoll hoch C ca.15 cm 3, alles weiß 2-7 Grad, Eis, auf 33 Meilen (ca.25o km) mit Courierpferden (besonders schnelle Pferde) gefahren, in Preußen und in Rußland gleich schlecht. Eben bei schöner klarer Winternacht über den Njemen gesetzt (mit einer Fähre).
Schwarzes rauschendes Wasser, breit wie die Elbe. Russen sehr liebenswürdig, aber schlechte Postpferde, und auch mal gar keine. Hier wollen wir vier Stunden schlafen, dann weiter nach Dünaburg. Vor 29. März sind wir schwerlich in Petersburg. Der Winter fängt auch hier zu unserer Freude an, bisher war kein Schnee.

Brief Nr. 279
Rjeshiza
(Rositten)
27.3.59

Halbwegs zwischen Dünaburg und Pskow (am Südende des Peipus-Sees). Hier glücklich angelangt. Morgen werden wir nach Petersburg kommen. Donnerstagnachmittag fuhr ich aus Königsberg weg, bis jetzt Tag und Nacht gefahren (Sonntagabend 7 Uhr) und nächste Nacht wieder. Tiefer Schnee (seit Königsberg sah ich die Erde nicht), Berge mit Glatteis, müde und gestürzte Pferde, Flußübergänge, halb gefrorene Düna haben uns so aufgehalten, daß es nicht schneller ging; auf guten Wegen laufen die Pferde sonst gut.

Brief Nr. 280
Pskow
28.3.58

Rußland hat sich unter unseren Rädern gedehnt, die Werste (1,066 km) bekamen Junge auf jeder Station, aber endlich sind wir im Eisenbahnhafen. 96 Stunden von Königsberg ohne Aufenthalt gefahren, nur in Kowno schliefen wir 4 Stunden,und 3 in Egypten (Station bei Dünaburg). Ich glaube, es war vorgestern. Jetzt ist mir sehr wohl, nur die Haut brennt mir, da ich fast die ganze Fahrt draußen saß und wir zwischen 1 und 12 Grad Kälte hatten (vermutlich noch gemessen in Grad Reaumur, also bis - 15 Celsius). Im Wagen wars für Klüber (Leutnant v. Klüber, der Begleiter v.Bismarcks) und mich zu eng, weshalb ich mit Engel (Leibjäger v. Bismarcks) tauschte. Wir hatten so tiefen Schnee, daß wir sogar mit 6 oder 8 Pferden buchstäblich stecken blieben und aussteigen mußten. Noch schlimmer waren die glatten (vereisten) Berge, besonders hinunter, auf 2o Schritt brauchten wir 1 Stunde (1 Schritt. = 75 cm, 2o Schritt = 15 m), weil viermal die Pferde stürzten und sich 8 untereinander verwickelten; dazu Nacht und Wind, eine rechte Winterreise in Natur. Der Wagen war zu schwer. v. Klüber hatte an 400 Pfund (2oo kg) Gepäck. Zu 1 hätte ich leidlich gesessen, zu 2 auf der Folter.

(Die Postkutsche hatten offensichtlich nur zwei Sitzplätze im Inneren). Auf meinem Aussensitz war nicht zu schlafen, schon der Kälte wegen, aber besser doch in der Luft; den Schlaf hole ich nach. Der Njemen war eisfrei. Die Wilia (Wilija, ein rechter Nebenfluß des Njemen, der Memel) aber, so breit wie der Main und reißend, ging mit Eis. Die Düna (lettisch: Daugava; russisch: Sapadnaja Dwina) hatte nur eine freie Stelle, wo wir mit 4 Stunden Warten und 3 Stunden Arbeit (mit einer Fähre) hinüber kamen. Viele Birkenwälder, meilenweit Sümpfe, schnurgerade Chausseen, alle 14 bis 22 Werst (15 bis 25 km) eine Poststation, sehr gut eingerichtet, alles Mögliche zu haben und alle geheizt; jedermann höflich und der Dienst pünktlich; nur jenseits Dünaburg zu wenig Pferde, auf einer Station bei Kowno 3 Stunden gewartet, und dann müde Tiere. Wo der Weg gut war, liefen sie ausgezeichnet, halbe Meilen Carriere (Renngalopp, die schnellste Gangart eines Pferdes) mit dem schweren großen Wagen; aber ziehen können sie nicht, wo es schwer geht, so fixe Kerle auch die Postillone sind.
Es ist jetzt 6 Uhr, wir haben eben diniert. Mir gegenüber sitzt Klüber und raucht gedankenvoll. Um 7.45 Uhr (abends) geht der Zug von hier (nach Petersburg), zwei Werst von hier entfernt, ab. Morgen früh 4.15 Uhr, also 7 Tage nach der Abreise, wenn es Gottes gnädiger Wille ist, in Petersburg. Morgen schlafe ich den ganzen Tag.

Brief Nr. 281
29.3.59
St. Petersburg

Mit Gottes Hilfe bin ich glücklich hier angelangt, einstweilen im Hotel Demuth abgestiegen, und plötzlich 12 Tage jünger geworden, da man hier noch den 17. schreibt (Differenz zwischen Julianischem und Gregorianischem Kalender). Ich bin also von Mittwochabend bis heute, Dienstagfrüh, immer gefahren. Im Sommer wären es 60 Stunden von Königsberg gewesen, so aber 108. Es ist mir trefflich bekommen. Die Eisenbahnabteile sind in Russland viel besser als unsere und geheizt. Ich habe 8 Stunden (im Zug) wie im Bett geschlafen und bedarf jetzt keiner Ruhe mehr. Mir füllen die Posthäuser und Werstpfähle noch den Kopf, und die Klingeln der Pferde, das Schreien des Postillons und des Vorreiters und des Conducteurs (Schaffner) ewiges pravée-i, skar-rée-i, skarréee-i und der blendende Schnee und all die Peitschenhiebe auf die armen Pferde, die so gern Galopp liefen, wo der Wagen nur irgend rollen wollte. Karreta potschtowaja [Postwagen) stand drauf, und eine Karrete wars, ein Ding wie ein Haus und so hoch bepackt, dass wir die höchsten Schlagbäume streiften. Mit diesem Ungetüm fuhren die Leute nicht nur Galopp, sondern gestreckte Carriere, mit 6 und 8 Pferden, halbe Meilen weit. Bei uns ist es verboten, bergab und über Brücken rasch zu fahren. In Russland scheint der Galopp in beiden Fällen vorgeschrieben zu sein, auch wo es recht steil ist und erst eben die Pferde hingefallen waren. Amüsant war es doch after all, wenn ichs nur nicht gleich nochmal machen soll. Etwa aller l0 Meilen (75 km) hat der russische Kaiser ein Absteigequartier in einer Poststation; da ist dann alles sehr behaglich eingerichtet, und man würde Dir sowie mir die Benutzung gestatten.

Brief Nr. 284
St.Petersburg
8.April 59 an seine Eltern

Schon zwischen Königsberg und Stallupönen (Ostpreußen) hielten Schneegestöber meine Reise auf, und ich gelangte trotz der Courrierpferde erst in 28 Stunden von Königsberg nach Kowno. An der Grenze erwartete mich ein russischer Postwagen, der mir wegen des vielen Gepäcks sehr nützlich war, aber im Inneren zu eng. Ich tauschte deshalb mit Engel und habe die ganze Reise auf dem Vordersitz gemacht, der nur oben bedeckt, aber vorn offen war und zu schmal, um zu schlafen. Ich fuhr am Mittwochabend in Berlin ab und war Dienstagfrüh hier. Die erste und letzte Nacht war Eisenbahnfahrt, in der Zeit zwischen beiden habe ich im Ganzen 6 bis 7 Stunden auf Postsofas geschlafen. Der Schnee war bald tief wie Dünensand, bald fehlte er ganz; auf manchen Stationen mangelten Pferde, da alle Posten (wegen des Schnees) das Doppelte und Dreifache ihres sonstigen Bedarfs brauchten. Halb gefrorene Flußübergänge bei Nacht, glatte steile Berge, wo aufwärts die Pferde ermüdeten und hinunter stürzten. Es wäre nichts für Dich gewesen, liebe Mutter! Wenn oben die Pferde, 8 an der Zahl, im Knäuel übereinander gelegen hatten und kaum wieder angeschirrt waren, so ging es mit dem schwer und hochbepacktem Wagen im gestreckten Galopp bergab in die Nacht hinein. Mitunter gingen wir zu Fuß, wenn der Wagen unbeweglich stecken blieb in den Schneewehen.

So kam es, dass wir zu den gegen l00 Meilen (75o km) von Königsberg nach Pskow die ganze Zeit vom Donnerstagnachmittag bis Montagabend brauchten, ohne irgendwo zu übernachten. In Pskow nahm uns das vorzüglich eingerichtete Eisenbahnabteil auf, in dem ich 9 Stunden schlief, ohne mich zu rühren, und erst hier auf dem Bahnhof Dienstagfrüh mit Mühe geweckt wurde. Es ist mir recht lieb, diese Reiseerfahrung gemacht zu haben. Ich werde sie schwerlich wiederholen, da der schnelle Fortschritt der Eisenbahn die Strecke, auf der sie fehlt, jährlich verkleinert. Von Königsberg nach Kowno soll sie im nächsten Jahr, von Pskow nach Dünaburg im folgenden Jahr fertig werden.

Soweit der interessante Reisebericht des damals 44 Jahre alten Otto von Bismarck. Ob unser Johann Karl Wilhelm-Ose auf seiner Rückreise von Moskau nach Dresden Ähnliches erlebt haben mag? Wir wissen es nicht!

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Von einer Postkutschenfahrt im Jahre 1840
Ein Bericht von dem deutschen Archäologen Carl Otfried Müller aus Terra Annunciata/Neapel , entnommen aus dem Buch " Entdeckungen in Hellas/Reisen deutscher Archäologen in Griechenland, Kleinasien sowie Sicilien", herausgegeben von Heinrich Alexander Stoll (Verlag der Nation, DDR Berlin, 1. Auflage 1979,Seine 176,177).

... Unser Vetturin (Kutscher, Fostillon) war so gut erfahren, dass wir in 5 Stunden in Paestum (antike Ruinenstadt 35 km südöstlich von Salerno) bleiben und auch bei ziemlich guter Zeit nach Salerno zurückkehren konnten. Nur hatte er für den Rückweg ausser uns (Müller und Begleiter Dr. Schoell) und sich noch 10, sage zehn Personen aufgeladen, nämlich 1 obenauf, 1 in einer Hängematte unter dem Wagen, 4 als Koffer hintenauf, 2 auf dem Bock und 2 auf dem Fußbrett des Bocks, auf dem der Kutscher selbst sag rechts und links hängend. Mir machte es zwar Spaß, diese fabelhafte Geschichte selbst zu erleben. Doch wurde uns etwas schwül, als die Pferde, die ungewohnte Last fühlend, durchaus nicht von der Stelle wollten; doch gelang es dem Kutscher durch allerlei Künste bald, sie in Gang und Trab und sogar Galopp zu bringen....

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Zwischen Russlandreise und Liebschwitz
Während Carls Abwesenheit war das 10. Kind Carl Edwin geboren (12. August 1844), auf das auch in dem Brief von Herrn Mono (s.o.) angespielt wird. Schon am 11. September 1844 stirbt Carl Edwin und wird', "inNeustadt nachmittags in der Stille begraben." Dem Wiedersehen der Eheleute nach der Russlandreise entspringt wohl das nächste Kind: Carl Richard, geboren am 19.Dezember 1845. Schon nach fünf Monaten wird es den Eltern wieder genommen, nämlich am 5. Mai 1845. Das Begräbnis war aufwendiger als das seines Bruders Carl Edwin. Es erfolgte "mit Wagen". Daraus könnte man schließen, dass die wirtschaftliche Lage sich gebessert hatte.

Jedoch ist Karl Ose in den Dresdner Adressbüchern 1846 und 1847 nicht unter den praktischen Ärzten aufgeführt, jedoch l847 unter den "Barbieren und Chirurgen"* als "dimittierter" (entlassener) Schwadronsarzt. Ob diese Praxis von Karl Ose damals genügend Einnahmen erbrachte, wie man es erwartete, ist fast zu bezweifeln. Denn wäre die Praxis hervorragend gelaufen, wäre vermutlich nie der Gedanke aufgetaucht, Dresden zu verlassen und in das kleine Dorf Liebschwitz zu ziehen, wo auch nur eine relativ bescheidene Praxis zu erwarten war, jedoch auch geringer Lebenshaltungskosten.

Die folgenden Seiten und Bilder sollen dem Leser einen Begriff von den äusseren Umständen geben, unter denen die Menschen damals lebten. Allerdings verlebten die Oses die Jahre der Unruhen und Aufstände nicht mehr in Dresden, sondern schon in Liebschwitz, wohin vermutlich die Unruhen nicht übergriffen. In Gera, nur wenige km von Liebschitz entfernt, dürfte es anders gewesen sein, zumal es auch Hauptstadt des Fürstentums Reuß war.

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* siehe Anhang "Chirurgen und Barbiere"

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Dresden um 1830/50
Die nachfolgenden Angaben über Desden sollen uns einen kleinen Begriff von dem Dresden geben, in dem Karl Ose in diesen Jahren dort lebte.
Dresden hatte damals etwa 71 000 Einwohner (1970: ca.500 000); darin enthalten sind 5000 Soldaten, die zum größten Teil in Dresden-Neustadt untergebracht waren, wie der Stadtplan von Dresden zeigt (siehe Teil 1).

Dresden-Neustadt (damals auch häufig noch als "Alten-Dresden" bezeichnet) hatte nur etwa 8000 Einwohner. Dresden war fast völlig evangelisch. Es gab nur 4200 Katholiken und etwa 700 Juden.
Dresden war von 1547 bis 1918 Residenzstadt des Kurfürstentums bzw. ab 1807 des Königreichs Sachsen. Die Wettiner, das sächsische Herrscherhaus, waren zwar in der Reformationszeit zum evangelischen Glauben übergetreten. Jedoch konvertierte August der Starke (1670-1733) zum Katholizismus, um die polnische Königskrone zu erlangen. Deshalb gab es in Dresden die von Chiaveri entworfene, 1751 geweihte Katholische Hofkirsche neben dem Residenzschloß, ein markantes Wahrzeichen der berühmten Dresdner Stadt-Sihouette. Die Wettiner blieben katholisch.

Dresden hatte um 1830/50 die Schäden und Zerstörungen, die Friedrich II. von Preußen in der Mitte des 18. Jahrhunderts z.T. mutwillig angeordnet hatte, und die in den Befreiungskriegen 1813 insbesondere durch die Schlacht bei Dresden Ende August 1813 angerichtet worden waren überwunden. In der Schlacht bei Dresden besiegte Napoleon, der französische Kaiser, die verbündeten Preußen, Russen und Österreicher.

Dass Dresden eine Stadt der Kunst geworden ist, verdankt es in erster Linie seinem Kurfürsten August dem Starken. Er hatte den Zwinger durch Pöppelmann erbauen lassen, aber auch das Grüne Gewölbe eingerichtet, damals schon der Bevölkerung zugänglich, sowie Anregungen zu weiteren Sammlungen gegeben. Dresden zu Zeiten 1830/50 und auch später noch "als die ausgezeichnetste Stadt Sachsens, in welcher die Welt einstimmig den angenehmsten Wohnort des Weltteils, und eine der schönsten, gebildetsten und besuchtesten Städte Deutschlands anerkennt, und welche an offiziellem Rang nur Leipzig und an reizender Lage nur Meißen nachsteht."

Für den innerstädtischen Verkehr und den Nahverkehr gab es gegen 7o Lohnkutscher, ferner an 5 Punkten der Stadt etwa 100 Fiaker (Einspänner). Wöchentlich gingen 89 "Posten" (Postkutschen) auf 27 Strecken von Dresden ab. Eine entsprechende Anzahl kam an. 1839 war die Eisenbahnstrecke Leipzig - Dresden fertiggestellt. Wenige Jahre später folgte "Böhmische Bahn" nach der Tschechoslowakei (damals Österreich-Ungarisches Kaiserreich). Das erste Dampfschiff auf der Elbe fuhr 1835. Ob wohl Karl Ose und seine schon Ausflugsfahrten auf diesen Dampfschiffen unternommen haben?

Wasserleitungen gab es in Dresden-Altstadt schon seit 1542 zur Versorgung von Wasserstellen, in Neustadt seit 1737 als "Wasserhäuser an der Hauptstraße". Wer keinen hauseigenen Brunnen hatte, musste sich dort das Wasser holen. So lebte Karl Ose mit seiner Familie nach der Rückkehr aus Wurzen bis zu seiner Übersiedlung nach Liebschwitz in einer der schönsten der damaligen Großstädte, belebt durch die Elbe, interessant als Residenzstadt. Es gab ausreichend Bildungsmöglichkeiten. 1828 wurde die Polytechnische Schule gegründet, die spätere Technische Hochschule Dresden, die ich um 1930 besuchte. Auch ich habe gern in dem schönen Dresden gelebt.

Politische Verhältnisse im Königreich Sachsen in den Jahren 183o/7o
Die Zeit von den Befreiungskriegen 1813 bis zur Gründung des Deutschen Reiches durch v. Bismarck am 31. Januar 1871 war erfüllt von folgenden Strömungen:

- Der Drang zur Deutschen Einheit im Kampf der vom Wiener Kongress 1815 ausgehenden Restauration
- Der Übergang von der noch weitgehend absoluten Monarchie bzw. dem Ständestaat zur konstitutionellen Monarchie auf demokratischer Grundlage.

Daraus ergaben sich Unruhen und Konflikte vor allem um 183o und 1848 auch im Königreich Sachsen. Zunächst sei folgendes vorausgeschickt: Sachsen lag zwischen den Staaten Preußen und Österreich-Ungarn.

Die heutige Tschechoslowakei gehörte als Böhmen damals zum Kaiserreich Österreich-Ungarn. Es war schon das Ziel Friedrichs II. von Preußen, Sachsen, das bis auf etwa loo km an die preußische Hauptstadt Berlin heranreichte, zu kassieren, vor allem aber damit das Erzgebirge als Grenze gegen Österreich zu gewinnen. Diese Absicht übertrug sich auch auf die Nachfolger Friedrichs II. Als im Frühjahr 1813 (1812 fand der mit einer Niederlage endende Russlandfeldzug Napoleons statt) Preußen und Russland im Vertrag zu Kalisch den gemeinsamen Kampf gegen Napoleon vereinbarten, wünschte der russische Zar ehemals polnische Gebiete von Preußen zurückzuerhalten. Preußen sollte nach der Besiegung Napoleons dafür das gesamte Königreich Sachsen übernehmen. Es war dies eine kalte, durch nichts gerechtfertigte Machtpolitik, die auch später nicht dadurch begründet werden konnte, dass Sachsen zu lange am Bündnis mit Napoleon, nämlich am Rheinbund, festgehalten habe. Sind doch andere Rheinbundstaaten erst später als Sachsen von Napoleon abgefallen. Es war nur dem Einfluss Englands und Österreichs zu verdanken, dass nicht das gesamte Königreich Sachsen,; sondern nur 57,5% seiner Fläche und 42,2 seiner Einwohner an Preußen fielen. Leipzig blieb bei Sachsen.

In Sachsen setzte sich infolge dieses Schocks die
patriotische, durch die Freiheitskriege hervorgerufene nationale Stimmung nur relativ langsam durch, wie man dort auch die schon vor den Befreiungskriegen erfolgten militärischen Erhebungen (z.B. Schill) nicht besonders schätzte. Auch hatte man nach 1813 andere Sorgen. Der Aufbau des im Jahr 1813 durch verbündete und Napoleonische Truppen arg geplünderten und ausgesaugten Landes stand ganz im Vordergrund.
Der durch die Teilung des Landes bewirkte Verlust der Universität Wittenberg führte zu einer Aufwertung der Leipziger Universität. Sie war in den 1820er Jahren eine der besuchtesten in ganz Deutschlands. Man handhabte dort auch die in anderen Ländern sehr intensive politische Bevormundung der akademischen Jugend recht mild. So hatte auch das Wartburgfest 1817 und die burschenschaftliche Bewegung dort nicht jenen stürmischen Widerhall gefunden wie anderswo. Auch die Karlsbader Beschlüsse von 1819* haben die Spannung zwischen Studentenschaft und Regierung nicht wie in anderen Staaten ernstlich verschärft.

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*Ein Werk des österreichischen Staatsmannes v. Metternich. Sie enthielten scharfe Maßnahmen gegen
"demagogische Umtriebe" der nationalen und liberalen Bewegung sowie eine strenge Überwachung der Jugend.

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Seit 1815 trieben vor allem die Fragen der innerdeutschen Wirtschaftspolitik, für das Gewerbe- und industriereiche Sachsen eine Lebensfrage, aber auch die allgemeinen Strömungen des Geistes und der Politik die 1815 geschaffenen Zustandsveränderungen vorwärts.

Nach dem Tode des allverehrten Königs Friedrich August des Gerechten, der von 1763-1827 regierte und dem sich trotz seines starren Rechtsempfindens und seines den Strömungen der Zeit völlig entrückten Konservativismus keine Opposition entgegengestellt hatte, entfaltete sich eine Stimmung der Zeitenwende auch auf politischem Gebiet. Der Nachfolger, König Anton, ein Bruder des verstorbenen Königs, hatte dafür ebenfalls wenig Verständnis. So wird die Stimmung im Lande gereizter und die Unzufriedenheit weiter Kreise größer. Tumulte in Leipzig und Dresden fanden statt. Im September 1830 fanden, angeregt durch die französische Juli-Revolution, sogar Unruhen statt. Die Regierung war zunächst ratlos. Prinz Friedrich August, der spätere König, gab die sehr vernünftige Parole aus: "Vertrauen erweckt wieder Vertrauen!". Man rief nicht Truppen anderer Staaten zur Unterdrückung der Unruhen herbei, wie dies andere deutsche Staaten taten, sondern man vertraute dem gesunden Menschenverstand und der Treue des Volkes zum Herrscherhaus mit bestem Erfolge. Bürgergarden ("Communalgarden") entstanden, die für Ruhe und Ordnung sorgten. Die Regierenden erkannten die Wünsche der Bevölkerung an und stellte eine Verfassung auf, die den gesunden Fortschritt mit der Bewahrung des Erhaltenswerten zu vereinigen suchte. Nachdem es im Frühjahr 1831 neue blutige Unruhen gab, wurde schließlich am 4. September 1831 die Verfassung in Kraft gesetzt, die allerdings bewusst die konservativen Kräfte betonte. Sie legte im wesentlichen den damaligen Zustand fest und trennte Staatshaushalt und Haushalt des Hofes. Sie betonte die Freiheit der Person, Freizügigkeit, Eigentumsrechte und Gewissensfreiheit, Wehrdienstpflicht u.a. Sachsen war damit der letzte deutsche Staat - ausser Preußen und Osterreich -, der sich eine Verfassung gab. 1832 folgte die Städteordnung und das Gesetz über Ablösungen und Gemeinheitsteilungen, das vor allem die bäuerliche Bevölkerung betraf ännlich wie in Preußen die Bauernbefreiung unter Stein und v. Hardenberg.

Wichtig war für das gewerbefleißige Sachsen die Aufhebung der innerdeutschen Zollgrenzen in den 183oer Jahren. Schließlich schloss sich Sachsen 1834 dem unter Führung Preußens entstandenen "Deutschen Zollverein" an.

1834 folgte die Landgemeindeordnung, wobei allerdings noch nicht die volle Gleichheit aller Dorfbewohner erreicht wurde. 1836 erfüllte das Volksschulgesetz die Anforderungen der Zeit und wurde damit auch dem Ruf gerecht, den Sachsen als das Musterland der Volksbildung schon seit Jahrhunderten besaß. 184o folgte die Armenordnung und die Ernennung von Bezirksärzten.

1835 fuhr das erste Dampfschiff auf der Elbe, 1839 war die Eisenbahn Leipzig-Dresden fertiggestellt. Gesunde Staatsfinanzen, eine gesunde Landwirtschaft und eine mit der Regierung verständnisvoll zusammenarbeitende Volksvertretung sind der Gewinn jener Jahre. 1837 entdeckte man die Steinkohlenlager bei Zwickau, deren Abbau erst vor wenigen Jahren wegen Erschöpfung der abbauwürdigen Vorräte eingestellt wurde.

Die Pressezensur wurde in Sachsen mit Nachsicht gehandhabt. Leipzig wurde in jenen Jahren, die durch die Karlsbader Beschlüsse gekennzeichnet waren, zum Zufluchtsort freiheitlicher Schriftsteller aus ganz Deutschland.

Die günstige Entwicklung der Wirtschaftslage nach Überwindung der Folgen der Befreiungskriege führte zu einer Anhebung der Lebenshaltung und Lebensgestaltung in fast allen Schichten. Künstler wie Carl Maria v. Weber, Mendelssohn-Bartholdy und Robert Schumann belebten das Musikleben ebenso wie Richard Wagner, der allerdings 1848 wegen seiner Teilnahme am Aufstand in Dresden fliehen musste. Alle diese Bestrebungen wurden vor allem vom König Friedrich August II. (1797-1854) gefördert (siehe auch Anhang).

Der Übergang von der Biedermeierzeit zur Revolution 1848/49 erfolgte infolge verschiedener Einflüsse. Burschenschafter, Turner (Jahn!) und Sänger trugen den Gedanken der deutschen Zusammengehörigkeit in alle Volksschichten. Verkehr und Telegraphie überwanden die einzelstaatlichen Grenzen. Richtungweisend für die Meinungsbildung in politischen Fragen war Frankreich und seine staatliche Entwicklung. In Russland erblickte man den Hort der Reaktion.

Sachsen lag zwischen den ebenfalls reaktionären Großmächten Preußen und Österreich. Bei aller Fürsorge von oben ließen sich zudem gewisse soziale Spannungen nicht vermeiden. Die Arbeiterschaft hatte keine politischen Einflussmöglichkeit. Der Wille zur stärkeren Beteiligung am Staatsleben ergriff immer größere Teile der sächsischen Bevölkerung. Über den Liberalismus hinaus ging das Streben zu einer echten Demokratie. Es entstanden dank des liberalen sächsischen Pressegesetzes auch linksgerichtete Zeitungen. Es gab aber einige Versammlungsverbote aus religiösen Gründen sowie gewisse Schwierigkeiten durch die 1842 einsetzende Stockung des Exportes. 1845 kam es in Leipzig anlässlich des Besuches des Prinzen Johann zu Tumulten, die von den Behörden ungeschickt behandelt wurden. Dazu kam die Missernte 1846/47. So fielen die wirtschaftspolitischen Thesen des internationalen Sozialismus auf fruchtbaren Boden. Gleichzeitig zeigten sich allerdings die Regierung und die wohlhabenden Kreise bei der Überwindung wirtschaftlicher Not recht geschickt und großzügig, wozu noch eine kluge staatliche Preispolitik kam. Aufstände, wie sie damals in den schlesischen Weberdörfern vorkamen, gab es in Sachsen nicht. Eng verbunden mit diesen Wünschen nach Demokratie war das deutsche nationale Gemeinschaftsgefühl. Damals entfremdeten sich der 3. und 4. Stand.

Die Flamme der revolutionären Bewegung der französischen Februar-Revolution 1848 übertrug sich auch in starkem Ausmaß auf Sachsen. Der Demagoge Robert Blum in Leipzig erkannte den Vorteil der Stunde und nutzte ihn geschickt. Eine Woche später griffen die Unruhen auf die Landeshauptstadt Dresden über.
Der König setzte nicht auf Gewalt, sondern ersetzte das konservative Kabinett durch ein liberales.

Während in Berlin der König Friedrich IV. vor den Revolutionären kapitulieren musste, und in Wien Metternich gestürzt wurde, beglückwünschte man sich in Sachsen, dass hier der Umschwung so viel unblutiger und in geordneten Bahnen vor sich gegangen war. Übrigens erlebte Karl Ose mit seiner Familie die Dresdner Unruhen nicht, da er schon 1847 nach Liebschwitz gezogen war. Es kamen natürlich auch auf dem Lande Gewalttaten vor. Eine verhetzte Menge zerstörte das Schönburgische Schloß in Waldenburg. Von einer weiteren Gewalttat berichtet Karl Gottlob Arnold (18o5-1869) in seinem Wirtschafts- und Familien-Tagebuch. Bei den Wahlen zum Frankfurter Paulskirchen-Parlament 1849 gehörten von den 24 sächsischen Vertretern nicht weniger als 2o den Linken an. Die meisten Männer der Linken fühlten stärker national als ihre politischen Gegner, dachten aber auch weniger realistisch.

Der neue sächsische Landtag beschloss im Frühjahr 1849 wichtige fortschrittliche Gesetze. Auch billigte ein neu eingesetztes Kabinett die vom Landtag geforderten Grundrechte. Ende März 1849 geriet die von der Frankfurter Nationalversammlung beschlossene Verfassung in den Streit der Meinungen und spaltete nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch das Kabinett. Jedoch entschieden sich schließlich König und Kabinett gegen die vom Frankfurter Parlament vorgelegte Verfassung. Gleichzeitig lösten sie den Landtag auf. Sie stießen damit die Vertreter deutscher Einheitswünsche, die Liberalen und die Republikaner vor den Kopf. Diese witterten eine neue Reaktion und lösten den schweren Maiaufstand 1849 in Dresden aus. Die Revolution scheiterte schließlich an der Uneinigkeit der beteiligten Kreise, die zu heterogen waren, obwohl für die Regierungsseite machtpolitisch keineswegs günstig war. Sächsische und preußische Truppen beendeten schließlich den blutigen Aufstand. 3o tote Soldaten und 200 tote Revolutionäre waren die Opfer. Viele Prozesse gegen die Aufrührer mit z.T. sehr harten Strafen folgten, aber Todesurteile wurden nicht vollzogen.

Wie ein Zeitgenosse die Ereignisse 1848 sah, zeigt uns das
bereits erwähnte Tagebuch von Karl Gottlob Arnold (18o5-1869), Gastwirtsbesitzer und Bauer in Zöblitz/Erzgebirge. Er war der Großvater meines Vaters Georg Ose (1878-1922). Es lautet:

"Den 22./23. Februar 1848 ist eine schauderhafte Revolution in Paris ausgebrochen, wo die königliche Familie und die Minister ausgerissen sind. Früher in der Schweiz und vor kurzem in Italien und Sizilien sind ebenfalls Unruhen schauderhafter Art ausgebrochen. Den 4. April 1848 nach den Pariser Unruhen folgte bald ganz Deutschland nach. Nicht von ... (?) kamen die Nachrichten von Land zu Land, überall ist es schauderhaft zugegangen. Überall haben die Monarchen das zugeben müssen, was das Volk schon längst gewünscht hat. Überall sind größtenteils alten Minister abgegangen oder haben abgehen müssen. Unser Vaterland (Sachsen) war zuerst dabei, um das Ministerium zu stürzen, und es dauerte nicht lange, waren die neuen Minister vom König neu erwählt. Und die meisten dieser Minister waren Leute, die sich ausgezeichnet haben bei den Landtagen. In unserem Land ist es Gottseidank ohne Blutvergießen vorübergegangen.

Nur einzelne sehr schreckliche Taten sind vorgekommen. In Elterlein und Mitwayda (Erzgebirge), wo die Nagelschmiede einige Nagelfabriken zerstört haben, und dabei einige Menschen ihr Leben mögen verloren haben.

Aber auch andere Exzesse sind verschiedenen Orts vorgekommen, die allgemein durch die Zeitschriften bekannt bleiben werden, und ich nicht notwenig habe, in diesem Buch anzumerken. Nur bemerke ich noch, dass am 13. März eine schauderhafte Revolution in Wien und am 18. bis 19. d.J. in Berlin stattgefunden hat, wo dabei viel Blut vergossen worden ist, auch dabei viele Menschen ums Leben gekommen sind, in Berlin viel mehr als in Wien. Beide Länder haben die Konstitution (Verfassung) und noch viel mehr, was das Volk verlangt hat, dadurch erlangt. Auch Polen* und Schleswig-Holstein sind im Aufruhr und wollen wieder frei sein, wie dieselben frei und selbstständig waren. Und so kann man sagen, dass kein Land frei ist von Unruhen und werden auch nicht so bald frei von Unruhen werden, indem sie einer sehr betrüblichen Zukunft entgegengehen. Denn alle Gewerbe .... (?) der arbeitenden Klasse werden viele brotlos und dabei unwillig, dass sich viele nur darauf befleißigen, anderen Leuten Hab-und Gut zu rauben. Der gute Vater im Himmel sende von oben seine Hilfe. Er lasse das große Werk, was die Menschheit begonnen, glücklich und ohne viel Blut zu vergießen vorüber gehen. Das wolle er tun um seiner Liebe und seines Erbarmens willen. Amen!

Den 5. April 1848: Die schrecklichen Unruhen gehen immer so fort, überall nimmt der Pöbel überhand auf eine räuberische Art und Weise.

Den 12. April bemerke ich, dass vom 5.-6. April das Waldenburger Schloß demoliert und abgebrannt ist, und der Fürst (von Schönburg) mit seiner Familie ist geflüchtet. Der Fürst hatte seinen Untertanen dreimal l00.000 Thaler zum Erlass bewilligt, und dennoch sind diese schauderhaften Greultaten ausgeübt worden, aber bloß vom gemeinen Volke.

Den 6. April hatte es in Glauchau ebenfalls so losgehen sollen. Aber dem Bürgermeister, der seine Bürger
aufgefordert hatte, dieses Gesindel zu vertreiben, ist es gelungen, zur rechten Zeit noch diese Bande zu vertreiben. Jetzt ist die ganze Gegend mit Militär besetzt.


Am 18. März habe ich die ganze Grundsteuer auf das Jahr 1848 bezahlt, welche 27 Thaler 26 Neugroschen und 2 Pfennige betrug. Diese Steuern mussten ein halbes Jahr voraus bezahlt werden infolge der jetzigen Ereignisse. Das Land muss jetzt schrecklich viel Geld brauchen für die arbeitende Masse, welcher durch Straßen- und andere Baue Arbeit verschafft wird, um der Anarchie Einhalt zu tun. Bis jetzt leben wir in einer trüben Zeit und gehen einer schrecklichen Zukunft entgegen, indem alle Gewerbe und alle Industrien stehen, und die Menschen boshaft handeln und schon boshaft gehandelt haben...

Den 23. März habe ich den ganzen Tag Steine anfahren lassen für die hiesige Commune (Gemeinde). Es werden vornehmlich Leute beschäftigt am Schloßmühlenweg, welche bei der jetzigen Zeit gar keinen Verdienst haben und brotlos sind.

April 1848: Wichtige Anmerkungen. Seit den Märztagen 1848, wo die schauderhaft unruhigen Zeiten losbrachen, so ist es heute noch nicht anders geworden. Wir in Sachsen konnten Gott nicht genug danken, dass es immer noch so gnädig abgelaufen war, weil unser König die Wünsche des Volkes immer so allenthalben erfüllt hatte dass keine große Unruhe war, und wir immer dachten, dass es ohne Blutvergießen vorübergehen sollte. Leider brachen aber die Schmerzenstage in Dresden los, da am 28. April der König beide Kammern auflöste und die (vom Bundestag in Frankfurt aufgestellte) deutsche Verfassung, welcher er erst entsprochen haben soll, nicht annahm, gingen ernstlich die Minister ab. Und in den ersten Tagen des Märzmonats brachen auch schreckliche Unruhen in Dresden aus, so dass der König mit seiner ganzen Familie nach (der Festung) Königstein geflüchtet ist, und dadurch erst die Feindseligkeit zwischen den Dresdner Bürgern und dem Militär so groß geworden war. Allerdings hat das Militär Befehl erhalten, dass dieselben aufeinander gefeuert haben wie die ärgsten Feinde, und dadurch ist viel Blut geflossen, und viele Tote und Verwundete sind geworden. Bis heute, den 7. März, ist zwar noch keine sichere Nachricht vorhanden, doch sieht es von allen Seiten schlecht aus. Von allen Städten und Dörfern gehen nun die Communalgarde und andere Freischärler zur Hilfe für die Aufständischen nach Dresden ab.
Der himmlische Vater ende bald dieses böse Spiel. Er lasse uns bald wieder Ruhe und Frieden sowie auch Einigkeit und Zufriedenheit unter den Menschen wieder erleben. Das wolle er tun um seiner Liebe willen.

Den 20. März 1850 habe ich 6 Taler 29 Neugroschen 2 Pfg. ausserordentliche Grundsteuer und 1 Taler 15 Neugroschen Gewerbesteuer auf das Jahr 1849 bezahlen müssen, was wir demokratischen.... (?) zu verdanken haben, die die
Menschheit glücklich machen wollten. Statt aber glücklich zu machen haben wir eine Zeitperiode erlebt, die für uns lange Jahre hinaus unglücklich zu nennen ist, weil die Abgaben bedeutend steigen werden, und ausnahmsweise für den Ökonom eine drückende Zeit ist, weil das Getreide (der Getreidepreis) so weit herunter ist, dass Prozente verloren gehen müssen."

Soweit Karl Gottlob Arnold über die damalige Zeit. Weitere in diesem Zusammenhang interessante Angaben finden sich für diese Jahre in seinem Tagebuch nicht.

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* Polen war damals noch kein selbstständiger Staat, sondern noch geteilt (Deutschland, Russland, Osterreich). Erfolglose Aufstände 1830,1846,1848

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Nach den Unruhen nahm in Sachsen die politische und die wirtschaftliche Entwicklung einen gesunden und erfreulichen Verlauf, wenn auch manche Schwierigkeiten zu überwinden waren.

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